Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Kannibalismus- uraltes Erbe oder Mythos?

Geschichte|Archäologie

Kannibalismus- uraltes Erbe oder Mythos?
neandertaler.jpg
In der Höhle von Moula-Guercy unweit Valence im Rhône-Tal lagen zwischen den Resten von Rotwildknochen brutal zertrümmerte Knochen und Schädel, die Gehirne entfernt und die Zungen herausgeschnitten.

Was hier vor kurzem ein französisch-amerikanisches Forscherteam entdeckt hat, sind Zeugnisse eines 100000 Jahre alten Festschmauses von Neandertalern. So urteilte zumindest der Anthropologe Dr. Alban Defleur von der Universität Marseille im Oktober 1999 in der Wissenschaftszeitschrift “Science”. An sich nichts Ungewöhnliches: Daß Neandertaler hervorragende Jäger waren, ist seit langem bekannt. Doch die Knochen, denen Defleur und seine Kollegen so große Aufmerksamkeit widmeten, stammten eben nicht von Ziegen, Hirschen oder Mammuts. Es waren Menschenknochen – von zwei jugendlichen und einigen erwachsenen Neandertalern.

Waren unsere entfernten Verwandten also doch Kannibalen, Menschenfresser, die ihresgleichen als leckere Beute betrachteten? Plötzlich stellen sich nun Wissenschaftler wieder die fast ein Jahrhundert alte Frage, die mangels überzeugender Beweise stark umstritten blieb. Sie wurde um so mehr in den Hintergrund gedrängt, als Forscher in den letzten zwei Jahrzehnten nachwiesen, daß die kulturellen Unterschiede von Homo sapiens und Homo neanderthalensis so groß nicht waren. Auch Neandertaler haben beispielsweise ihre Toten bestattet und ihnen Grabbeigaben zugedacht. Kann es da gleichzeitig einzelne Neandertaler-Gruppen gegeben haben, die ihresgleichen nicht anders behandelten als Hirsche? Oder sollten gar, wie der spanische Archäologe Dr. Eudald Carbonell vorschlug, zeitweise mehrere Menschenarten in Europa gelebt haben, die Jagd aufeinander machten? Mancher schluckt trocken bei dem Gedanken, daß etwa auch unsere Ahnen Kannibalen waren. Neandertaler scheinen nach den Ergebnissen von Genvergleichen möglicherweise nicht zu unseren direkten Vorfahren zu gehören. Aber die Renaissance der Anthropophagie, wie die Wissenschaftler den Kannibalismus nennen, ist keineswegs auf den Neandertaler beschränkt: Die fossilen Knochen von 800 000 Jahre alten Frühmenschen, die 1997 im nordspanischen Atapuerca, nahe Burgos, gefunden wurden, weisen ebenfalls Schnittkerben auf. Die Paläontologin Dr. Yolanda Fernandez-Jalvo ist überzeugt: Hier wurden sechs Menschen geköpft, ihre Knochen vom Fleisch befreit, aufgeschlagen und anschließend achtlos weggeworfen. “Alle Wirbeltierknochen sind auf dieselbe brutale Art geöffnet worden”, sagt sie. “Wer Knochen so behandelt, hat keinen Respekt vor der Persönlichkeit des Toten – er will ans nahrhafte Mark.” Auch in historischen Zeiten geschah Derartiges. Der Bioarchäologe Dr. Christy Turner von der Arizona State University hat zahllose Knochen der Anasazi untersucht, Vorläufer der heutigen Hopi- und Pueblo-Indianer. Das Ergebnis seiner Spurensuche mit Rasterelektronenmikroskop und Lupe faßte Turner unlängst in einem Buch zusammen: “Über vier Jahrhunderte wurde im Südwesten der USA und Mexiko Kannibalismus praktiziert.” Die Anasazi hätten systematisch Menschen gefangen, in Töpfen gekocht und gegessen. Mit diesem Terror hätten sie ihr Nachbarvolk, die Polacca Walsh, für lange Zeit in Angst und Schrecken versetzt.

“Es ist unbestritten, daß menschliche Knochen oft bearbeitet wurden”, urteilt der Hamburger Paläoanthropologe Prof. Günter Bräuer. “Vom Pekingmenschen bis in die jüngste Zeit wurden Schädel aufgebrochen, Knochen abgeschabt und Fleischstücke gekocht. Doch zu welchem Zweck? Daß die Leichen gegessen wurden, ist kaum zu beweisen.” Wie sollen da Archäologen der Zukunft zwischen ehrender Bestattung und Kannibalismus unterscheiden können? Alban Defleur und Tim White sind überzeugt davon, daß zumindest ihre jüngste Untersuchung der Neandertaler-Knochen von Moula-Guercy unangreifbar ist. Die Schnittstellen, Brüche und Schlageinwirkungen an den Knochen von Hirsch und Mensch seien absolut identisch. Das fettreiche Knochenmark sei entfernt worden, ohne daß besondere Bestattungsmodalitäten für die Menschenknochen festzustellen seien.

Einwandfrei belegt ist der Verzehr von Menschenfleisch nur in extremen Hungersituationen – etwa in den zwanziger Jahren im stalinistischen Rußland und bei einem Flugzeugabsturz 1972 in den Anden – oder bei zwanghaften Serienmördern, wie sie in die literarische Figur des Hannibal Lecter (“Das Schweigen der Lämmer”) eingegangen sind. Ein gesellschaftlich akzeptierter Kannibalismus ließ sich laut Heidi Peter-Röcher nie zweifelsfrei beweisen. Da hätten Europäer – Eroberer oder Missionare – in Mittelamerika, Afrika, Asien oder Ozeanien beispielsweise Bestattungsriten fehlinterpretiert, bei denen Leichen zerlegt oder in Rauch gedörrt wurden. Ein Essen der Leichen hätten sie nie direkt beobachtet.

Anzeige

“Bei allen Völkern”, sagt Anna-Maria Brandstetter, Ethnologin an der Universität Mainz, “gilt das Verzehren eines Menschen als ultimativer Angriff auf dessen Persönlichkeit, als etwas Ungeheuerliches. Deshalb glaube ich nicht an einen kulinarischen Kannibalismus nur zur Befriedigung des Hungergefühls.” Anders sei dies bei ritualisierter Zerstörung menschlichen Lebens. So werde in zentralafrikanischen Gesellschaften immer wieder berichtet, daß Sklaven getötet und zu verstorbenen Königen und Häuptlingen ins Grab gelegt – oder eben bei opulenten Totenfeiern gegessen wurden. “Das halte ich durchaus für möglich”, urteilt die Ethnologin. “Denn nur sehr hochgestellte Personen durften an diesen rituellen Feiern teilnehmen. Wenn sie Sklaven verzehrten, zeigten sie ihre Macht. Sie als einzige konnten es sich leisten, diese für das gewöhnliche Volk unüberwindbare Grenze zu überschreiten.” So wäre Kannibalismus letzten Endes nichts anderes als ein Mittel zur Demonstration grenzenloser Macht – ein zutiefst menschlicher Zug, der nicht nur in den Zeiten von Homo neanderthalensis düstere Attraktivität besessen haben dürfte. Indizien dafür, daß Menschen Menschen aßen, gibt es genug. Was jedoch unbeweisbar bleibt, ist das Motiv dahinter.

Ulrich Eberl
Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Dossiers
Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

In|kom|pa|ti|bi|li|tät  〈f. 20; unz.〉 Ggs Kompatibilität 1 Unvereinbarkeit, z. B. mehrerer öffentl. Ämter in einer Person … mehr

Keim|fleck  〈m. 1; Biol.〉 befruchteter Kern der Keimscheibe; Sy Keimbläschen … mehr

In|ter|ven|ti|ons|kla|ge  〈[–vn–] f. 19; Rechtsw.〉 Klage eines Dritten, dessen Sachen gepfändet wurden, gegen den Gläubiger in der Zwangsvollstreckung, um die Unzulässigkeit der Vollstreckung geltend zu machen; Sy Widerspruchsklage … mehr

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige