Die Studie des Teams um Daniel Smith vom University College London basiert auf Untersuchungen in Gemeinschaften des Naturvolkes der Agta, die in weitgehend isolierten Regionen auf der pillippinischen Insel Luzon leben. Anthropologischen Untersuchungen zufolge stammen sie von den ersten Menschen ab, die vor mehr als 35.000 Jahren dieses Archipel erstmals besiedelten. Bis heute scheint ihre Lebensweise noch der ihrer Vorfahren zu ähneln: Die Agta ernähren sich weitgehend vom Fischfang, der Jagd und dem Sammeln von pflanzlichen Nahrungsmitteln im Wald – es handelt sich um eine Jäger-Sammler-Kultur.
Ihre Gemeinschaften bestehen im Durchschnitt aus etwa 50 Personen. Wie es für die heute noch existierenden Jäger-Sammler-Kulturen der Welt typisch ist, sind auch die Gemeinschaften der Agta von Gleichberechtigung geprägt und von einer Zusammenarbeit zwischen den Geschlechtern, berichten die Forscher. Der Glaube der Agta basiert auf der Existenz von Naturgeistern – wie auch bei anderen Jäger-Sammler-Kulturen gibt es keine moralisierenden Götter. Wie in allen menschlichen Gesellschaften, besitzen die Agta aber ebenfalls eine ausgeprägte Kultur des Geschichtenerzählens. Welche Rolle dieser Aspekt bei den Agta spielt, haben Smith und seine Kollegen durch eine Reihe von Untersuchungsansätzen erforscht.
Worum sich die Geschichten meist drehen
Zunächst haben sie den Inhalt typischer Geschichten analysiert, die ihnen von Erzählern der Agta vorgetragen wurden. Ihr Fazit lautet: Sie sind häufig von Botschaften geprägt, die auf eine Förderung der Kooperation und des konstruktiven Zusammenlebens abzielen. Recherchen unter den Geschichten anderer Jäger-Sammler-Völker bestätigten die generelle Bedeutung dieser Elemente in den Geschichten solcher ursprünglich lebenden Menschen. „Diese Geschichten scheinen das Gruppenverhalten zu koordinieren und die Zusammenarbeit zu erleichtern, indem sie Einzelpersonen mit sozialen Informationen über die Normen, Regeln und Erwartungen in einer bestimmten Gesellschaft versorgen“, resümiert Daniel Smith.
In einer beispielhaften Geschichte der Agta geht es um die männliche Sonne, die mit dem weiblichen Mond darüber streitet, wer den Himmel erleuchten sollte. Am Ende einigen sich diese beiden symbolischen Charaktere, indem sie sich die Rolle teilen: Die Sonne erleuchtet den Tag – der Mond die Nacht. Wie die Forscher erklären, symbolisiert diese Geschichte die Gleichberechtigung der Geschlechter und betont die Bedeutung ihrer Zusammenarbeit.
Eine weitere aussagekräftige Geschichte hebt die Bedeutung sozialer Akzeptanz hervor: Sie handelt von einer geflügelten Ameise, die sich in ihrer Gemeinschaft als fremd empfindet und sich fragt, ob sie wegen ihrer Flügel überhaupt eine Ameise sein kann. Nachdem sie mit anderen Tieren gesprochen hat, kommt sie aber zu dem Schluss, dass auch sie eine Ameise ist. So findet sie schließlich auch bei den Angehörigen ihres Nests Anerkennung und am Ende machen sie diese ungewöhnliche Ameise zu ihrer Königin.
Um Hinweise darauf zu bekommen, inwieweit sich die Ausprägung der Erzählkultur auf die sozialen Fähigkeiten einer Gruppe auswirkt, führten die Forscher experimentelle Gruppenspiele mit Mitgliedern bestimmter Agta-Gruppen durch. Dabei zeigte sich: Gemeinschaften mit einem größeren Anteil erfahrener Geschichtenerzähler verfügen über ein besonders hohes Maß an Kooperationsfähigkeit.
Beliebte Erzähler
Die Forscher baten außerdem rund 300 Mitglieder aus 18 Agta-Gruppen zu wählen, mit wem aus ihrer Gruppe sie am liebsten enger zusammenleben würden. Dabei zeichnete sich ab, dass die guten männlichen oder weiblichen Geschichtenerzähler überdurchschnittlich beliebt waren. Wie die Forscher berichten, spiegelt sich dies auch im Fortpflanzungserfolg wider: Im Vergleich zu weniger qualifizierten Gruppenmitgliedern kamen die erfahrenen Geschichtenerzähler auf durchschnittlich 0,53 mehr Kinder. Dieser Effekt könnte die Bedeutung dieses Merkmals im Laufe der menschlichen Entwicklung demzufolge verstärkt und gefördert haben, sagen die Forscher.
Sie kommen zu dem Fazit: Das Geschichtenerzählen war für die Organisation des menschlichen Sozialverhaltens offenbar entscheidend, indem es die Kooperation förderte, soziale Regeln kommunizierte und die Folgen für ihr Durchbrechen darstellte. In den sogenannten „höher entwickelten Kulturen“ erfüllen komplexe Religionen mit moralisierenden Göttern diese Funktion. „Jäger-Sammler-Religionen haben keine moralisierenden Götter und doch sind sie sehr kooperativ gegenüber der gesamten Gemeinschaft. Das Geschichtenerzählen in Jäger-Sammler-Kulturen scheint demnach ein Vorläufer der komplizierteren Formen gewesen zu sein, die sich im Zuge der Entwicklung der Landwirtschaft durchgesetzt haben“, sagt Co-Autorin Andrea Migliano von der University of Cambridge.