China ist nicht gleich China – die Menschen in den unterschiedlichen Regionen des riesigen Landes unterscheiden sich nicht nur durch Sprache und Dialekte, es gibt auch deutliche Unterschiede in der Mentalität. Diese Beobachtung entspricht auch der persönlichen Erfahrung des Hauptautors der Studie, Thomas Talhelm von University of Virginia in Charlottesville. Er hat mehrere Jahre sowohl im Süden als auch im Norden Chinas verbracht und dabei persönliche Erfahrungen mit Chinesen der unterschiedlichen Regionen gemacht. Die Grenze zwischen den typischen Grundcharakteren der Chinesen scheint der Yangtse-Fluss zu bilden, der China in einen nördlichen und einen südlichen Teil trennt. Er bildet auch die traditionelle Grenze der Anbaugebiete von Weizen im Norden und Reis im Süden.
Um nicht nur mit Informationen argumentieren zu müssen, die auf persönlichen Eindrücken oder Hören-Sagen beruhen, entschlossen sich Talhelm und seine Kollegen zu einer empirischen Untersuchung der Denkweise von Chinesen: Sie erfassten mittels psychologischer Fragebögen systematisch den Grad der individualistischen und analytischen Einstellung von knapp 1.200 Chinesen südlich beziehungsweise nördlich der Yangtse-Grenze.
Reisanbau erfordert mehr Gemeinschaftssinn
Die Auswertungen bestätigten die persönlichen Eindrücke und die Aussagen des chinesischen Volksmundes: Menschen im Norden sind tatsächlich im Durchschnitt eher individualistischer und analytischer eingestellt als im Süden, ergaben die statistischen Auswertungen. Ihre Mentalität gleicht damit weitgehend der von Menschen aus westlichen Kulturen, sagen die Forscher. Ihnen zufolge untermauert dieses Ergebnis ihren neuen Erklärungsansatz – die Reis-Theorie. Demnach spiegelt sich in dem Unterschied zwischen Nord und Süd der Effekt der Landwirtschaft wieder.
Der Knackpunkt dabei: Reisanbau erfordert deutlich mehr Kooperation unter Menschen. Aufwändige Bewässerungssysteme müssen dafür von Menschengruppen angelegt und gemeinschaftlich gepflegt werden und auch für den arbeitsintensiven Anbau selbst ist gegenseitige Hilfe nötig. Deshalb haben sich in vom Reisanbau geprägten Regionen über die Jahrtausende hinweg eher gemeinschaftsorientierte und ganzheitliche Einstellungen in der Kultur und in der Denkweise der Menschen verankert. Weizenbauern sind dagegen vergleichsweise wenig auf Kooperation oder Gemeinschaftsgut angewiesen. Dies spiegelt sich wiederum in ihrer eher individualistischen Einstellung wider, erklären die Forscher. „Die Daten legen also nahe, dass landwirtschaftliche Traditionen noch immer die Menschen moderner Gesellschaften prägen”, resümiert Talhelm.