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Auf den Zahn gefühlt

Geschichte|Archäologie

Auf den Zahn gefühlt
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Karies (linker Pfeil) und Knochenschwund (rechter Pfeil): Ötzi hatte Probleme mit seinen Zähnen, hier als 3D-Rekonstruktion aus den CT-Aufnahmen dargestellt.
Ötzi, der Eismann, hatte es nicht leicht: Er litt unter Arterienverkalkung und musste sich im Lauf seines Lebens mit gebrochenen Rippen, Gallensteinen und einer Borrelien-Infektion herumschlagen. Als wäre das nicht genug, kamen dazu offenbar auch noch Zahnschmerzen, zeigt jetzt eine neue Studie: Ötzi hatte Karies, fortgeschrittene Parodontose und diverse Verletzungen an den Zähnen. Trotzdem sei das Gebiss „funktional“ gewesen, schreiben die Wissenschaftler – zumindest größtenteils.

Die liebevoll Ötzi genannte Gletschermumie ist wohl die am besten untersuchte Leiche aller Zeiten. Nicht nur der Körper des vor etwa 5.300 Jahren gestorbenen Mannes wurde genauestens unter die Lupe genommen, mittlerweile ist sogar sein Erbgut sequenziert und analysiert worden. Daher weiß man bereits eine ganze Menge über den Mann aus der Jungsteinzeit: Er wurde vermutlich zwischen 40 und 50 Jahre alt, starb an den Folgen einer Verletzung durch eine Pfeilspitze in der Schulter und hatte die letzten Jahre seines Lebens in verschiedenen Alpentälern verbracht. Er hatte blaue Augen, litt unter Arthritis, Gefäßverkalkung, Lactose-Intoleranz und Gallensteinen und hatte, schaut man sich seine diversen Narben und verheilten Knochenbrüche an, offenbar kein ganz einfaches Leben.

Trotz dieser intensiven Untersuchung wurde ein Bereich bisher stiefmütterlich behandelt, monieren Frank Rühli von der Universität Zürich und seine Kollegen: Über Ötzis Gebiss ist bisher nur sehr wenig bekannt. Lediglich die auffallende Lücke zwischen den oberen Schneidezähnen, die starke Abnutzung der Zähne und das Fehlen der Weisheitszähne wurden erwähnt. Um dieses Manko zu beheben, konzentrierten Rühli und seine Kollegen sich daher nun auf die Zähne des Eismannes. Direkt untersuchen konnten sie sie allerdings nur sehr eingeschränkt: Da der Kiefer der Mumie geschlossen ist, ist die Mundhöhle nur mit einem Endoskop zugänglich, und das lieferte kaum neue Erkenntnisse.

Aufschlussreicher waren da die Computertomographie-Aufnahmen, die im Lauf der Jahre von Ötzi angefertigt worden waren. Hier konnten die Wissenschaftler gleich mehrere Zahnprobleme diagnostizieren. Am auffälligsten blieb die starke Abnutzung: Alle 28 Zähne waren stark abgeschliffen, bei den Schneidezähnen fehlten zum Teil sogar bis zu zwei Drittel der Krone. Verantwortlich dafür waren vermutlich Steinkörnchen, die damals beim Mahlen des Getreides ins Mehl gelangt sind und die während des Essens wie Sandpapier gewirkt haben müssen. Solche Partikel machen bei Ötzi übrigens knapp sechs Prozent des Darminhalts aus. Derartig abgeschliffene Zähne waren in der Jungsteinzeit ein sehr verbreitetes Problem: Sie wurden bei Funden aus Südafrika, Arabien, der Levante und dem nördlichen China entdeckt.

Auch ein weiteres von Ötzis Zahnproblemen hatte mit der Ernährung zu tun, die sich im Neolithikum langsam von der fleischlastigen der Jäger-Sammler-Kulturen zu der kohlenhydratreichen bäuerlicher Gesellschaften entwickelte. Die vielen Kohlenhydrate brachten dabei nicht nur mehr Energie, sondern auch mehr Karies mit sich: Während bei Jägern und Sammlern typischerweise nur sehr selten Löcher in den Zähnen auftraten, waren bei bäuerlich lebenden Menschen im Schnitt mehr als drei Zähne befallen. Das galt auch für Ötzi: Der zweite Backenzahn rechts oben zeigte ein extrem tiefes Loch, das bis ins Zahnmark reichte. Der Zahn daneben war ebenfalls befallen, allerdings nicht ganz so ausgeprägt. Es gab auch noch weitere Zähne, bei denen die Forscher glauben, Anzeichen für Karies entdeckt zu haben – hier reichte jedoch die Auflösung der CT-Aufnahmen nicht aus, um Genaueres sagen zu können.

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Der Zahn mit dem tiefen Loch machte Ötzi wahrscheinlich keine Probleme mehr, mutmaßen die Forscher, da der Nerv wohl bereits abgestorben war. Der benachbarte bereitete ihm dagegen vermutlich ziemliche Schwierigkeiten, vor allem, wenn er mit Heißem oder Kaltem in Kontakt kam. In diesen Momenten wird der Eismann auch Ärger mit seinen Vorderzähnen gehabt haben: Bei ihnen lagen die Zahnhälse als Folge einer ausgeprägten Parodontitis frei. Diese Entzündung hatte an mehreren Stellen bereits auf den Knochen übergegriffen und ihn zersetzt. Sehr harte Nahrung konnte Ötzi daher wahrscheinlich nicht mehr kauen – einige seiner Zähne waren dafür zu locker. Die Parodontitis war dabei vermutlich nicht nur dem Lebensstil geschuldet: Im Genom der Gletschermumie fanden Forscher mehrere Genvarianten, die mit einer Veranlagung für Parodontitis in Verbindung gebracht werden.

Schlussendlich zeigen Ötzis Zähne ebenso wie sein Körper Spuren seines harten Lebens. Die Krone des rechten oberen Schneidezahns ist deutlich erkennbar verfärbt – vermutlich eine Folge eines Schlags gegen den Kiefer, der den Zahn gelockert hat, schreiben die Forscher. Zudem ist am ersten Backenzahn im Oberkiefer auf der linken Seite einer der Buckel auf der Innenseite abgebrochen. Das spreche eher dafür, dass es sich um eine Art Unfall beim Essen handelte, glaubt das Team: Ötzi scheint sich an irgendetwas buchstäblich die Zähne ausgebissen zu haben.

Resümee der Wissenschaftler: Trotz seines für damalige Verhältnisse fortgeschrittenen Alters hatte Ötzi im Großen und Ganzen ein funktionales Gebiss, das ihm allerdings immer wieder Schmerzen bereitete und nicht mehr für alle Nahrungsmittel geeignet war.

Roger Seiler (Universität Zürich) et al.: European Journal of Oral Sciences, doi: 10.1111/eos.12037 © wissenschaft.de – Ilka Lehnen-Beyel
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