?Wir sind ein bisschen Neandertaler? ? so titelten die Medien 2010, doch nun widersprechen zwei britische Forscher dieser spektakulären Aussage: Ihren Ergebnissen zufolge sei es wahrscheinlicher, dass die Ähnlichkeiten zwischen dem Erbgut des modernen Menschen und des Neandertalers auf gemeinsame Vorfahren zurückzuführen sind, als auf Mischungen der beiden Menschenformen. Darüber berichten Anders Eriksson und Andrea Manica von der University of Cambridge im angesehenen Wissenschaftsmagazin ?PNAS?. Das Thema entwickelt sich nun offenbar zur Kontroverse: Die Urheber der Kreuzungs-Theorie überzeugt die aktuelle Studie nicht.
Im Jahr 2010 gelang es den Forschern um Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig, das Neandertaler-Genom zu rekonstruieren. Die nachfolgenden Analysen ergaben, dass die meisten modernen Menschen anscheinend 1 bis 4 Prozent Erbgut des archaischen Menschen tragen. Nur einige Bevölkerungsgruppen in Afrika verfügen nicht über die Neandertaler-Gene. Dies fügte sich plausibel in die Vorstellungen der Frühgeschichte: Nach dem Verlassen seines Heimatkontinents Afrika traf der moderne Mensch irgendwann auf den Neandertaler und zeugte gemeinsame Nachkommen, die dann den Rest der Welt eroberten. Doch von Anfang an gab es bei diesem Erklärungsmodell ein Problem, dessen sich Svante Pääbo und seine Kollegen durchaus bewusst waren: Die vermeintlichen Neandertaler-Gene ließen sich auch anders deuten ? als altes afrikanisches Erbe.
Doch keine fruchtbaren Techtelmechtel?
Die aktuellen Ergebnisse von Eriksson und Manica basieren auf Computermodellen, die nahelegen, dass die genetischen Gemeinsamkeiten auf die Entwicklung beider Menschenformen aus einer geografisch definierten Population zurückzuführen sind. Die Frühmenschen, die sich in Europa und Asien zum Neandertaler entwickelten, könnten demnach aus einer Population im nördlichen Afrika ausgewandert sein. Danach entwickelte sich dann auf dem schwarzen Kontinent der moderne Mensch, parallel zum Neandertaler in Europa. Im Norden Afrikas war diese neue Menschenform genetisch gesehen dem Neandertaler aber immer noch näher als auf dem Rest des Kontinents. Vom Norden aus machten sich dann vor 60.000 bis 70.000 Jahren die modernen Menschen auf, die Welt zu besiedeln. Ihr gemeinsames Erbe mit den Neandertalern nahmen sie Eriksson und Manica zufolge also mit.
?Wir können nicht beweisen, dass es niemals Hybridisierungen gegeben hat, aber alle bisherigen Studienergebnisse zeigen auch nicht, dass es so gewesen sein muss?, sagt Andrea Manica. Das könnte sich allerdings bald ändern, sagen Svante Pääbo und David Reich von der Harvard University gegenüber dem Wissenschaftsmagazin ?New Scientist?. Neue Untersuchungen zu den Spuren im Erbgut deuten demnach erneut auf eine Kreuzung vor 47.000 bis 65.000 Jahren hin. Die entsprechenden Studienergebnisse sollen schon bald veröffentlicht werden. Es wäre demnach voreilig, die Kreuzungs-Theorie bereits abzuschreiben.
Anders Eriksson und Andrea Manica von der University of Cambridge: PNAS, doi: 10.1073/pnas.1200567109 © wissenschaft.de ?
Martin Vieweg