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Forschung in Fernost

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Forschung in Fernost
China und Indien wollen in vielen Bereichen an die Weltspitze, auch in Wissenschaft und Forschung. Aber geht diese Rechnung auf? Der ehemalige Präsident der deutschen Max-Planck-Gesellschaft, Peter Gruss, kennt die Forschungslandschaft in China und Indien wie kaum ein anderer deutscher Wissenschaftler. Im Interview erklärt er, wie er die Lage einschätzt.

Wissenschaft.de: Wie ist haben sich Wissenschaft und Forschung in China und Indien zuletzt verändert?

Peter Gruss: China hat sich geradezu explosiv in der Wissenschaft entwickelt. Das Forschungsbudget ist oft über zehn Prozent pro Jahr gewachsen – also noch gigantischer als die Wirtschaft. China hat daneben die Forschungsstrukturen Zug um Zug verbessert. Durch das dirigistische System ist es für die Chinesen relativ einfach, Großprojekte rasch auf die Beine zu stellen. So haben sie sich vor wenigen Jahren für den massiven Einstieg in die Kernfusion entschieden und bauen derzeit ein Experiment auf, das vergleichbar ist mit dem ITER-Projekt, das Europa, USA, Russland, Japan, Südkorea und China gemeinsam vorantreiben. Obwohl die Chinesen erst viele Jahre später als ITER gestartet sind, wollen sie früher mit den Fusionsexperimenten beginnen.

Und in Indien?

Da sieht es anders aus. Indien ist geprägt von einer überbordenden Verwaltung auch in der Wissenschaft. Zudem hat das Land nicht die gleichen Zuwächse beim Forschungs- und Entwicklungsbudget (F&E) wie China. Vor wenigen Jahrzehnten noch gaben die Inder pro Kopf der Bevölkerung mehr Geld für F&E aus als die Chinesen. Heute liegt dieser Prozentsatz bei Indien immer noch unter einem Prozent. China hingegen liegt bei zwei Prozent, Deutschland zum Vergleich bei drei Prozent. In absoluten Zahlen ist China laut der Zeitschrift „Nature“ mit mehr als 193 Milliarden Dollar Forschungsausgaben nach den USA bereits der zweitgrößte Forschungsförderer überhaupt.

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In China absolvieren jedes Jahr 7,5 Millionen Menschen eine Hochschule. In Indien waren im Studienjahr 2013/ 2014 23,7 Millionen Studierende immatrikuliert. Wie steht es mit ihrer Qualifikation?

Ich glaube nicht, dass der Durchschnitt der Absolventen unser naturwissenschaftliches Qualifikationsniveau hat. Doch auch diese geringer Qualifizierten machen uns zu schaffen. Ich kann das am Beispiel von Bangalore festmachen, der indischen IT- und Biotech-Hauptstadt. Dort unterhalten inzwischen viele westliche Unternehmen Service-Einheiten. Warum? Weil die in Indien ausgebildeten Bachelor-Absolventen für diese Tätigkeiten gut genug sind, aber deutlich günstiger arbeiten als Europäer. Diese Leute kosten nicht mehr als etwa 1200 Euro im Monat.

Asiaten dominieren inzwischen bei Doktoranden und Postdocs an den US-Elite-Universitäten …

… und wie! An der Westküste sind 80 bis 90 Prozent der internationalen Nachwuchswissenschaftler asiatischer Herkunft. An der Ostküste, schätze ich, sind es 50 bis 60 Prozent. Die meisten davon sind Chinesen, die ihre Heimat verlassen haben mit dem Wunsch, eine wissenschaftliche Spitzenausbildung zu bekommen. Was sich ebenfalls verändert hat: Mehr und mehr dieser Top-Ausgebildeten kehren zurück und übernehmen hervorragend ausgestattete und dotierte Professuren in der Volksrepublik.

Welche Rolle spielt die chinesische Staatsführung dabei?

Auf maßgeblichen politischen Positionen Chinas sitzen inzwischen Leute, die zuvor in der Wissenschaft Karriere gemacht haben. Das Land durchläuft derzeit einen gesellschaftlichen Wandel und will es bis zum nächsten Jahrzehnt schaffen, mindestens die Hälfte der 1,3 Milliarden Chinesen in den Mittelstand zu katapultieren. Themen wie Energie, Klima, Gesundheit und Altern werden die chinesische Wissenschaft prägen und die Innovationskraft des Landes dynamisieren. So produzieren dortige Unternehmen schon jetzt gute Kernspintomografen der unteren Preisklasse, die auch in westlichen Kliniken eingesetzt werden und den Marktführern heftig zusetzen. Spannend ist, ob die Chinesen es schaffen, vom Kopieren von Technologie auf eigene Innovation umzusteigen. Da bin ich skeptisch. In den dortigen Schulen und auch Universitäten werden verstärkt wieder die klassischen Werte des Sozialismus vermittelt. Freies Denken wird zu wenig gefördert. Dabei ist freies Denken die Voraussetzung für echte Innovationsstärke.

Und was geschieht in Indien?

Indien hat sich bei der Wissenschaftsförderung kaum verbessert. Die Zahl der Wissenschaftler bezogen auf die Gesamtbevölkerung ist deutlich kleiner als in China. Auch die Universitätslandschaft ist nicht gut entwickelt. Viele Universitäten haben Qualitätsmängel, und es gibt nur einige wenige Elite-Einrichtungen. Gute Ansätze sehe ich in der Biotechnologie und in IT-Bereichen. Insbesondere bei der Generika-Herstellung und bei der Infektionsbiologie hat Indien einen großen Sprung gemacht. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass es in Indien Fließbandinnovationen wie im Silicon Valley gibt.

Gibt es in den beiden Ländern auch hochkarätige außeruniversitäre Forschungsinstitute?

In Indien sehe ich eine Handvoll Institute beispielsweise in der Biomedizin und der Informationstechnologie, die in ihren Forschungsleistungen herausragend sind. Das indische System braucht aber deutlich mehr solcher Institute – auch in anderen Disziplinen. Warum? Von den Indian Institutes of Technology weiß ich, dass 80 Prozent der Absolventen nach dem Bachelor abgehen – also nach der wissenschaftlichen Grundausbildung. Das heißt: Sie sind nicht wirklich fertig ausgebildete Wissenschaftler. Wenn Indiens Wissenschaft international besser werden will, muss sich an der Ausbildung etwas ändern und der Schwerpunkt auch mehr in Richtung Spitzenforschung gelegt werden. Mit den fünf neuen Indian Institutes of Science Education and Research (IISER) schlägt Indien den richtigen Weg ein. In China findet eine solche Umstrukturierung bereits statt. Unter dem Dach der Akademie der Wissenschaften wird es einerseits Exzellenzinstitute geben, die tief in die Grundlagenforschung einsteigen. Andererseits sollen programmorientierte Institute an anwendungs-nahen Aufgaben forschen.

Was denken Sie, wann wird China die USA als führende Wissenschaftsnation abgelöst haben?

Bei der Zahl der Publikationen ist das schon der Fall, aber in den Naturwissenschaften ist der „Impact“ das Maß der Dinge. Das heißt, der Wert einer Publikation ergibt sich aus der Bedeutung, die andere Wissenschaftler einem bestimmten Forschungsergebnis beimessen, indem sie dieses Ergebnis häufig zitieren. Um hier an die Spitze zu kommen, wird China sicherlich noch 15 bis 20 Jahre brauchen.

Die Chinesen werden das aber schaffen?

Grundsätzlich teile ich die Ansicht von Wissenschaftshistorikern wie Roger Hollingsworth, dass in Zukunft nicht Nationen den Ton in der Wissenschaft angeben, sondern dass es weltweit Spitzencluster geben wird. Heute sind das beispielsweise die San Francisco Bay Area, Boston, London, München, Berlin, Shanghai und Bangalore. Jedes Land sollte bestrebt sein, solche Cluster zu fördern oder aufzubauen. Und ja, China geht so zielgerichtet vor, dass es in 20 Jahren ebenso viele Innovationscluster etabliert haben dürfte wie die USA. Wenn der Westen in diesem Spitzenfeld weiter mitspielen will, ist es wichtig, dass wir unsere erworbenen wissenschaftlichen Fähigkeiten deutlich ausbauen. Der riesige chinesische Binnenmarkt verleiht diesem Land überdies so viel Kraft, dass neue Produkte dort stets ausreichend erprobt und verbessert werden können, ehe sie den Weltmarkt erobern.

Was folgern Sie daraus für den Standort Deutschland?

Wenn ich Politiker wäre, würde ich mir sehr, sehr viele Gedanken machen, um unser Land besser aufzustellen. Wir haben es über mehrere Bundesregierungen hinweg politisch nicht geschafft, in Deutschland ein Klima für Ausgründungen und neues Unternehmertum zu etablieren, das dem entspricht, was in Großbritannien oder USA Standard ist. Wir müssen die Übertragungsachse von Wissenschaft und Industrie dynamisieren und massiv öffentliches Geld dafür bereit stellen, um etwa Produkt-Prototypen zu finanzieren und den Reifungsprozess von der Invention zur Innovation zu fördern. Weiterhin muss endlich privates Geld, das in Innovationsprozesse fließt, steuerlich begünstigt werden. Und es muss ein öffentliches Klima geschaffen werden, damit Jungunternehmen auch hierzulande an die Börse gehen und nicht nur in Zürich, London oder New York.

Das Interview führte Wolfgang Hess.

 

Peter Gruss

war von 2002 bis 2014 Präsident der Max-Planck-Gesellschaft (MPG). Als 33-Jähriger wurde er Professor für Mikrobiologie an der Universität Heidelberg. Aktuell ist Gruss (*1949) als Emeritus Präsident und Direktor bei der MPG, berät den Ministerpräsidenten des Freistaates Sachsen sowie den Staatschef von Kolumbien. Daneben baut er den Siemens Technology & Innovation Council auf, einen Beirat, der sich mit Technologien und Innovationen befasst, die für den Konzern langfristig wichtig werden.

Foto: A. Griesch/MPG

 

© wissenschaft.de
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