Am Ende landet das naive Mädchen im Rachen des Wolfes – doch nur in der Version der Gebrüder Grimm: In Erzählungen aus anderen Teilen der Welt entkommt Rotkäppchen und auch weitere Aspekte unterscheiden sich. In manchen Varianten ist beispielsweise das Opfer kein Kind, sondern eine Ziege und der Bösewicht ein Tiger. Außerdem verschwimmen die Grenzen zu „Der Wolf und die sieben Geißlein“. In dieser Geschichte imitiert der Wolf eine Ziegenmutter, um sich das Vertrauen der Zicklein zu erschleichen und sie schließlich zu fressen. Es wurde bereits vermutet, dass die Urform von Rotkäppchen in China entstanden ist und sich dann ausgebreitet hat. Jamie Tehrani von der Universität von Durham ist den märchenhaften Fragen nun systematisch nachgegangen.
Der Forscher hat 58 Varianten von Rotkäppchen beziehungsweise Der Wolf und die sieben Geißlein aus 33 verschiedenen Kulturen auf der ganzen Welt einer sogenannten phylogenetischen Analyse unterzogen. Diese Methode setzten Biologen ein, um Verwandtschaft und Entwicklungsgeschichte von Organismen im Rahmen der Evolution aufzuzeigen. Dabei werden Eigenschaften der Lebewesen systematisch verglichen und in mathematische Modelle eingefügt. So sind Rückschlüsse möglich, welche Aspekte einen gemeinsamen Ursprung haben – es entsteht ein Stammbaum. Dieses System hat Tehrani auf seine Märchen-Forschung übertragen. 72 Variablen dienten hierfür als Grundlage. Beispielsweise die Eigenschaften des Bösewichts: Ist es ein Wolf, Tiger oder sonstige Kreatur und welche Tricks setzt er ein? Wer ist das Opfer, entkommt es oder nicht? Und so weiter.
Verwandte: Rotkäppchen und Der Wolf und die sieben Geißlein
Die Auswertungen dokumentierten die enge Verwandtschaft von Rotkäppchen und Der Wolf und die sieben Geißlein. Tehrani zufolge hat sich Rotkäppchen etwa 1.000 Jahre später als die Ziegen-Geschichte entwickelt. Offenbar führte dies unabhängig voneinander in Afrika und Europa zu ähnlichen Versionen. „Die afrikanischen Erzählungen stammen von Der Wolf und die sieben Geißlein ab, sind dann wie das europäische Rotkäppchen geworden, das sich vermutlich ebenfalls aus dieser Geschichte entwickelt hat“, erklärt Tehrani. Bei den fernöstlichen Versionen scheint es sich hingegen um spätere Mischungen zwischen den beiden Geschichten zu handeln. Dies widerspricht der Theorie, dass die Wiege Rotkäppchens in China stand.
Die Märchenforschung per Phylogenie könnte man nun auch auf andere Märchen anwenden, meint Tehrani. Die Ergebnisse seien möglicherweise auch für andere Forschungsrichtungen wertvoll: Wann und wo bestimmte Versionen von Märchen erzählt wurden, könnte Aufschluss über historische Wanderbewegungen von Völkern liefern, so der Forscher.