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Soziale Physik als Lebenshilfe? Alles Unsinn!

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Soziale Physik als Lebenshilfe? Alles Unsinn!
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Die Physiker kennen Gesetze, mit denen sie berechnen, was in der Welt passiert. Die Sozialwissenschaftler möchten gerne Gesetze ersinnen, mit denen sie berechnen können, was in der Gesellschaft passiert. Eine Lösung ihres Dilemmas ist die „Soziale Physik“. Ob die aber hält, was sie verspricht, ist recht fraglich. Ein Kommentar von Ernst Peter Fischer

„Social Physics“ – so heißt ein in diesem Jahr erschienenes Buch von Alex Pentland, der am weltberühmten Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston als Professor in „Computational Social Sciences“ lehrt – also in Sozialwissenschaften mit dem Computer. Seine angeblich neue Wissenschaft von der „Sozialen Physik“ handelt unter anderem davon, wie es mit sozialen Medien gelingen kann, Leute dazu zu bringen, gegen geringe Bezahlung das zu tun, was ihnen auf sämtlichen Medienkanälen seit Jahrzehnten eingetrichtert wird: Nämlich ihre vier Buchstaben aus dem Fernsehsessel zu erheben und sich laufend oder trabend durch die Gegend zu schleppen, damit sich ihre körperliche Fitness verbessert.

Der MIT-Professor hat für sein Experiment mit Namen „FunFit“ keinen traditionellen Weg beschritten, sondern Smartphones für das Herumscheuchen der Probanden benutzt. Genauer gesagt, nutzte er deren soziale Beziehungen, um ihnen so einen starken Anreiz zum Aufraffen zu verschaffen. Das funktioniere nicht nur im Kleinen, sondern auch im Großen: Mithilfe von Wissen aus sozialen Medien sollen Einzelne dazu gebracht werden, zur Lösung sozialer Probleme beizutragen und sie möglichst aus der Welt zu schaffen. Bei solchen Dingen wie Klimawandel, Fettleibigkeit oder Armut.

Kaum steht das zwischen zwei Buchdeckeln, macht sich mancher FAZ-Feuilletonist Sorgen, dass eine „Soziale Physik“ bald die Politik abschaffen und sich an ihre Stelle setzen wird. Bei diesem Lamentieren dauert es nicht lange, bis Schreckensworte wie Google oder Facebook fallen. Glauben die Online-Größen doch, alle Probleme lösen zu können, wenn nur genügend Informationen verfügbar sind.

Hilfestellung aus der Vergangenheit

Wie so oft lohnt es sich, bei solch übereilten spekulativen Vorblicken in die Zukunft innezuhalten und zu überlegen, ob sich nicht durch einen Rückblick in die Vergangenheit lernen lässt, was eine „Soziale Physik“ überhaupt leisten kann. Der Ausdruck findet sich zum Beispiel in einem Buch des amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers Philip Mirowski aus dem Jahr 1989. Unter dem Titel „More Heat Than Light“ hat er die Ökonomie als „Soziale Physik“ beschrieben und sich von dem Credo leiten lassen: „Wir müssen uns auf die Naturwissenschaften beziehen, um zu verstehen, was ökonomisch vor sich geht.“ Tatsächlich – so zeigt sein Buch – stellen die Grundbegriffe der heute dominanten und an Universitäten gelehrten Wirtschaftswissenschaften nichts anderes als schlichte Übernahmen der Grundbegriffe aus der Physik dar, die ihrerseits aus dem 19. Jahrhundert stammen – etwa wenn von Kräften der Marktes, Impulsen der Nachfrage und von der Energie der Wirtschaft die Rede ist.

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Da wir schon auf dem Weg in die Vergangenheit sind – der Glaube an die souveräne Überlegenheit der Physik stammt aus dem 18. Jahrhundert, als Isaac Newton der Aufklärung den naturwissenschaftlichen Stoff lieferte und Immanuel Kant die Ansicht vertrat, dass die Physik nur der Anfang einer völligen Verwissenschaftlichung sei. Nach der Physik komme eine Ethik, aus der dann die Grundlagen einer aufgeklärten Politik erwachsen würden. Und im Lichte dieser rationalen Maschinerie könne sich schließlich das Leben der Menschen verbessern, so die frühe Idee einer „Sozialen Physik“ voller Rationalität.

Was die Physik eben nicht kann

Diese Prognose ist bekanntlich nicht eingetroffen. Und schon damals fiel einigen auf, dass die Physik vieles kann, nur nicht vorschreiben, wie ein Individuum sein Leben zu führen hat. Diese Erkenntnis stammt von den Romantikern. Sie haben Tatsachen von Werten unterschieden und vorgelebt, dass die Physik zwar viel über Tatsachen, aber nichts über Werte sagen kann. In ihnen kommen freie Schöpfungen von erlebenden und liebenswerten Menschen zum Vorschein, die sich in ihrem kreativen Tun durch keine Form einer „Sozialen Physik“ behindern lassen. Sie schlafen zum Beispiel nicht ein, wenn ein Smartphone und ein MIT-Professor es ihnen sagen, sondern wenn sie müde sind. Was sollten sie auch sonst tun.

 

 

Ernst Peter Fischer

ist Physiker, Biologe und habilitierter Wissenschaftshistoriker. Er hat mehr als 50 Bücher geschrieben – neben Biographien und Firmengeschichten über Themen, die von Atomphysik bis zu Hirnforschung reichen. „Die andere Bildung“  hat eine Auflage von mehr als 100.000 erreicht und ist in zahlreiche Sprachen übersetzt worden. 2014 erscheint sein Buch „Die Verzauberung der Welt“. Darin beschreibt Fischer, wie und warum naturwissenschaftliche Erklärungen die Geheimnisse der Natur nicht aufheben, sondern erst vertiefen.

Vom Autor erschien zuletzt in bild der wissenschaft 4/14 “ Die wilden Sechziger„. 

© wissenschaft.de

Ernst Peter Fischer
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