Mehr noch: Da ja vor allem die orthodoxe Kirchenorganisation im Visier der Staatsmacht war, sahen jetzt einige nicht-orthodoxe Religionsgemeinschaften – Lutheraner, Muslime, Buddhisten u.a. – ihre Chance gekommen. Sie waren unter dem Zarismus nur geduldet worden, jetzt beriefen sie sich auf das Verfassungspostulat der Religionsfreheit und verhielten sich dem neuen Staat gegenüber bewusst loyal. Ab Ende der zwanziger Jahre, Anfang der dreißiger Jahre änderte sich die Politik aufs Neue. Im Zuge des entstehenden Sowjetpatriotismus (man musste sich eingestehen, dass die Weltrevolution ausgeblieben war und konzentrierte sich auf den „Sozialismus in einem Land“) setzte der Staat nun eher auf Glaubensgemeinschaften, die sich in der Tradition der orthodoxen Volks- und Kirchenkultur bewegten. Die Orthodoxe Kirche wurde nun eingespannt für die Bildung einer sowjetisch-vaterländischen Identität. Glaubensgemeinschaften wie die Lutheraner, protestantische Freikirchen oder Juden wurden jetzt „unerwünscht“.
Im Grunde aber lief es darauf hinaus, die Partei als Kirchenersatz zu etablieren. Damit wurde letztlich die Herrschaftsstruktur des kaiserlichen Russland fortgesetzt, nur dass hier der Herrscher von Gottes Gnaden durch die Herrscher von Ungottes Gnaden ersetzt wurden. – In dem Sammelband zieht sich dieses Fazit durch die Perspektiven der verschiedenen Glaubensgemeinschaften. Zur Sprache kommen die Beziehungen des Staates zur Russisch-Orthodoxen, Georgischen und Armenischen Kirche, zu den Altgläubigen, den Lutheranern, den protestantischen Freikirchen, den Juden, Muslimen und Schamanisten. Die Beiträge beruhen zum größten Teil auf bisher nicht veröffentlichten Archivquellen.