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Warum es „die deutschen Wurzeln“ nicht gibt

Geschichte|Archäologie

Warum es „die deutschen Wurzeln“ nicht gibt
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Hermann dem Cherusker, hier das Denkmal im Teutoburger Wald, gilt gerne als der Germane schlechthin. Doch auch seine Vorfahren haben einen Migrationshintergrund. (Foto: JfsPic/ iStock)
Gerade wir Deutschen sehen uns gerne als typische Mitteleuropäer – als ein Volk mit lange zurückreichenden kulturellen, aber auch genetischen Wurzeln. Unter anderem deshalb gelten die Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten vielen als „fremd“. Doch in Wirklichkeit sind wir den Migranten weitaus näher als wir glauben, wie ein Artikel im Fachmagazin „Science“ unterstreicht. Denn auch wir gehen auf eine lange Reihe von Migranten zurück – und die meisten davon stammten aus der Heimat der heutigen Flüchtlinge.

Seitdem größere Mengen an Flüchtlingen zu uns strömen, wächst bei einigen Menschen die Angst: Sie fürchten sich nicht nur vor dem Wandel, den die neuen Einflüsse anderer Kulturen mit sich bringen. Manche – vor allem am politisch extrem rechten Rand Angesiedelte – befürchten gar eine „Überfremdung“ oder den Verlust der „genetischen Identität“ der Deutschen. Wem solche Aussagen unschön bekannt vorkommen, der hat Recht: Bereits im Dritten Reich gehörte die Vorstellung einer germanischen, „arischen“ Rasse zum Standardrepertoire der Nazis. Sie führten ihre Herkunft gerne auf die Germanen und Hermann den Cherusker zurück – den sie als Musterbeispiel für einen „reinen Arier“ inszenierten. Ihrer Vorstellung nach lagen die Wurzeln der Deutschen in Volksstämmen, die schon seit Urzeiten in Mitteleuropa lebten und so einen einheitlichen kulturellen und genetischen Hintergrund hatten. Und auch heute noch, jenseits der Nazi-Ideologie, ist dieser Glaube einer weit in die Vergangenheit reichenden, mitteleuropäischen Abstammung durchaus verbreitet – wenn auch nicht immer bewusst artikuliert.

Schon Hermann war eine wilde Mischung

Doch all dies ist ein purer Irrglaube und Mythos, wie Ann Gibbons nun in einem Artikel im Fachmagazin „Science“ noch einmal deutlich darlegt. „Die wenigsten von uns sind wirklich die direkten Nachkommen der Menschen, deren Skelette in unserer Nachbarschaft gefunden wurden“, erklärt sie. „Auch die Deutschen haben kein einzigartiges genetisches Erbe, das sie schützen müssten. Denn sie und alle anderen Europäer sind ohnehin längst ein Mischmasch – Nachfahren wiederholter urzeitlicher Einwanderungen.“ Schon Hermann der Cherusker war alles andere als ein lupenreiner Mitteleuropäer. Er trug in sich das Erbe von mindestens drei großen Einwanderungswellen – und damit von Migranten aus Gebieten außerhalb Europas, die unsere Herkunft und Kultur entscheidend prägten. „Das ganze Konzept eines ethnischen Deutschen ist aberwitzig, wenn man sich die großen Zusammenhänge anschaut“, sagt auch der israelische Archäologe Aren Maeir.

Belege für unsere durch Migrationen geprägten Wurzeln haben in den letzten Jahren gleich mehrere großangelegte Genstudien geliefert. Durch Vergleiche der DNA verschiedener Populationen und auch DNA-Proben von alten Skeletten ist es Forschern gelungen, ein neues Licht auf die komplexe Geschichte der Europäer zu werfen. Die Ergebnisse enthüllen unter anderem, dass die ersten Vertreter des Homo sapiens, die vor rund 40.000 nach Europa eingewanderten, schon wenig später größtenteils wieder verdrängt wurden. Denn als sich nach der letzten Eiszeit vor rund 14.000 bis 19.000 Jahren die Gletscher langsam zurückzogen, wanderten Jäger und Sammler aus dem Nahen und Mittleren Osten nach Europa ein. Sie bildeten die erste große Einwanderungswelle.

Anatolier und Steppenreiter

Vor rund 9.000 Jahren begann dann mit dem Übergang zur Jungsteinzeit die Einwanderung der ersten Bauern aus dem Nordwesten Anatoliens. Sie vermischten sich mit den Bewohnern des damaligen Europa und hinterließen damit auch genetisch ihr Erbe in nahezu jedem heutigen Europäer, wie Forscher herausfanden. Die ersten Bauern brachten nicht nur ihre Gene und die Technologie der Landwirtschaft mit. Wir verdanken ihnen auch einen tiefgreifenden kulturellen Wandel: Aus nomadischen Jägern und Sammlern entwickelten sich in Mitteleuropa die sesshaften Bauern der Linearbandkeramik-Kultur. Die dritte große Welle folgte in der frühen Bronzezeit: Vor rund 5.000 Jahren strömten die Jamnaja, ein halbnomadisches Volk von Steppenreitern, nach Südosteuropa ein. Erst vor Kurzem enthüllten DNA-Vergleiche, dass vor allem die Männer der Jamnaja ihre Spuren im Erbgut der heutigen Europäer hinterlassen haben. Offenbar zeugten sie damals rege Nachwuchs mit den bereits im Donaugebiet ansässigen Bauerntöchtern, vermuten die Forscher. Ein Großteil der heutigen Europäer geht sogar auf nur eine Handvoll dieser bronzezeitlichen Einwanderer zurück, wie die Genstudien ergaben.

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Fasst man dies zusammen, ist klar, dass wir von unserer Abstammung her kaum europäischer sind als die Migranten, die heute bei vielen für Ablehnung und Ängste sorgen. Denn auch unsere Vorfahren stammten zum großen Teil aus dem Nahen und Mittleren Osten und aus Zentralasien. „Das neue Bild bedeutet auch, dass Hermann der Cherusker eine Mischung aus nacheiszeitlichen Jägern und Sammlern, anatolischen Farmern und Jamnaja-Steppenreitern war“, sagt Gibbons. Selbst vermeintlich abgegrenzte europäische Volksgruppen wie die Basken in Frankreich und Spanien oder die Kelten in Irland, Schottland, der Bretagne und Wales haben sich nach genetischen Analysen als typische Europäer entpuppt. „In der Vergangenheit und auch heute konstruieren ethnische Gruppen gerne ein imaginäres Bild der alten und ‚reinen‘ Abstammung ihrer Gruppe“, sagt Maeir. „Aber das hat wenig mit den realen historischen Prozessen zu tun.“ Bei allen Problemen, die der heutige Einstrom der Flüchtlinge mit sich bringt und noch bringen wird – er ist im Prinzip nur eine weitere Episode in der langen Einwanderungs- und Migrationsgeschichte unserer Kultur und unseres Kontinents.

Quelle:

© wissenschaft.de – Nadja Podbregar
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