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Die Wurzeln liegen in der Kindheit

Geschichte|Archäologie Gesellschaft|Psychologie

Die Wurzeln liegen in der Kindheit
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Frühe Vernachlässigung und ungenügende Förderung benachteiligter Kinder sind für die Gellschaft später teuer (Foto: yacubchuk/iStock)
Forscher haben ein brisantes Missverhältnis aufgedeckt. Demnach verursacht ein kleiner Teil der Bevölkerung den Löwenanteil der gesellschaftlichen Kosten für Gesundheitsfürsorge, Sozialhilfe oder Kriminalität. Die Wurzeln dieser Ungleichverteilung liegen dabei in der Kindheit: Die rund 20 Prozent der Kinder, die als Dreijährige am schlechtesten in Bezug auf Sozialverhalten, Intelligenz und Familiensituation abschnitten, sorgten als Erwachsene für 80 Prozent der Probleme. Dies sei aber kein Grund zur Ausgrenzung oder Stigmatisierung, sondern weise den Weg zu wirksamer Abhilfe, betonen die Forscher. Denn es zeigt, dass es sich lohnt, wenn eine Gesellschaft in frühe Hilfe für solche Kinder investiert.

Dass die Kindheit einen entscheidenden Einfluss auf unsere spätere Persönlichkeit hat, ist eine Binsenweisheit. Denn schon lange ist bekannt, dass Kindheitstraumata, Armut, Ausgrenzung oder zerrüttete Familienverhältnisse dazu beitragen können, dass jemand später auf die sprichwörtlich schiefe Bahn gerät oder selbst in prekären sozialen Verhältnissen landet. „Deshalb galt es als im öffentlichen Interesse, solchen Kindern so früh wie möglich zu helfen“, erklären Avshalom Caspi von der Duke University in Durham und seine Kollegen. Wie groß der Effekt der Kindheitsverhältnisse aber tatsächlich ist – und wie sehr damit auch frühe Interventionen helfen – war bisher höchst umstritten. „Auf der einen Seite gibt es die Ansicht, dass das ‚Kind der Vater des Mannes‘ sei, weil die Kontinuität von den Kindheitsrisiken zum Erwachsenen stärker ist als gedacht“, so die Forscher. „Auf der anderen Seite aber wird – auf Basis derselben Daten – vor dem Mythos des Kindheits-Determinismus gewarnt und vor der Überbewertung der Kindheitserfahrungen.“ Die Frage, welche Seite nun recht hat, krankte bisher vor allem daran, dass sich nur schwer beziffern ließ, wie groß der Einfluss der Kindheit auf die spätere Lebenskarriere nun tatsächlich ist.

20 Prozent verursachen 80 Prozent der Kosten

Um mehr Klarheit zu schaffen, haben Caspi und seine Kollegen nun Daten einer der verlässlichsten und engmaschigsten Kohortenstudie weltweit ausgewertet. Bei der sogenannten Dunedin-Studie wurden 1.037 in den Jahren 1972 und 1973 in Neuseeland geborene Kinder bis ins Erwachsenenalter hinein regelmäßig untersucht und befragt. Im Alter von drei Jahren unterzogen Forscher alle Kinder ausführlichen Tests ihrer Intelligenz, ihrer verbalen und motorischen Fähigkeiten und ihrer Selbstkontrolle. Außerdem erfassten sie die Familiensituation und die sozialen Umstände. Wie es diesen Studienteilnehmern im Alter von 38 Jahren erging, ermittelten die Forscher mit Hilfe persönlicher Interviews und der Auswertung behördlicher und medizinischer Daten. „Die Digitalisierung des menschlichen Lebens erlaubt es uns, präzise zu quantifizieren, wie viele gesellschaftliche Kosten eine Person der verursacht und welche Menschen mehrere teure Gesundheits- und Sozialdienste beanspruchen“, sagt Koautorin Terrie Moffitt von der Duke University. Ziel war es, anhand all dieser Daten festzustellen, ob und wie deutlich sich Probleme im Erwachsenenalter schon in der Kindheit abzeichnen.

Das Ergebnis: In allen acht von den Forschern untersuchten sozialen und medizinischen Bereichen sorgte eine Minderheit von rund 20 Prozent der Teilnehmer für 80 Prozent der gesellschaftlichen Kosten. „In welchem Segment man auch immer schaut, ob bei der Kriminalität, der Sozialhilfe oder dem Gesundheitssystem – überall finden wir eine solche Konzentration“, sagt Caspi. „Das Neue daran ist, dass die gleiche Gruppe von Individuen in gleich mehreren Segmenten auffällig wird.“ Die Angehörigen dieser Hochrisikogruppe waren für 81 Prozent der Verurteilungen wegen krimineller Delikte verantwortlich, hatten 66 Prozent der Sozialhilfe der Kohorte erhalten und 78 Prozent der verschreibungspflichtigen Medikamente, wie die Forscher berichten. Auch Übergewicht und Rauchen kam in dieser Gruppe überdurchschnittlich häufig vor.

Ablesbar schon an Dreijährigen?

Noch brisanter aber war der Bezug zur frühen Kindheit dieser Personen: Ob eine Person später zu den rund 20 Prozent der problembelasteten Erwachsenen gehörte, ließ sich meist schon im Alter von drei Jahren feststellen. „Wir haben beobachtet, dass sich Mitglieder der Hochrisikogruppe von ihren Altersgenossen durch die gleichen vier Kindheits-Nachtteile unterschieden: Sie wuchsen tendenziell in sozioökonomisch benachteiligten Umgebungen auf, wurden schlecht behandelt, schnitten in IQ-Tests schlechter ab und zeigten eine geringe Selbstkontrolle“, berichten Caspi und seine Kollegen. Dies habe für alle acht untersuchten Bereiche nahezu gleichermaßen gegolten. Konkret bedeutet dies: Wie es einem Kind im späteren Leben ergehen wird, lässt sich unter Umständen schon im Kindergartenalter vorhersagen.

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Auf den ersten Blick scheint dies, als wenn die Ergebnisse den deterministischen Ansatz bestätigen. Nach diesem sind wir das Produkt unserer Kindheitserfahrungen und können ohnehin nicht viel dagegen tun. Gleichzeitig könnte dies denjenigen Munition liefern, die einem falsch verstandenen Sozialdarwinismus anhängen. Doch das ist zu kurz gedacht, wie die Forscher betonen; „Wir sind uns dessen bewusst, dass diese Ergebnisse leicht missbraucht werden können, um Personen und Gruppen zu stigmatisieren und Stereotype zu bestätigen.“ Doch die Studie zeige im Gegenteil auf, dass ein frühes Eingreifen und eine Verbesserung der Bedingungen für Kinder aus prekären und zerrütteten Verhältnissen echte Abhilfe bieten könne. „Der Zweck unserer Studie war es nicht, das Leben der Kinder weiter zu komplizieren und sie einer Stigmatisierung auszusetzen“, sagt Caspi. “ Stattdessen wollen wir damit klarmachen, dass es für alle ein Vorteil ist, wenn wir diesen Kindern früh helfen.“ Eine frühe Intervention ist demnach für die Gesellschaft gut eingesetztes Geld, denn es erspart später erheblich größere gesellschaftliche Kosten.

Quelle:

© wissenschaft.de – Nadja Podbregar
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