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„Sanktionen können zur Eskalation beitragen“

Gesellschaft|Psychologie

“Sanktionen können zur Eskalation beitragen”
Können Sanktionen Frieden bringen? Wie verhindert ein regionales Krisenmanagement den Ausbruch von Kriegen? Und wie lotsen Friedenswissenschaftler ihre Forschungsergebnisse in die Politik? Friedensforscher Christian von Soest erklärt.

bild der wissenschaft: Herr von Soest, heutzutage brechen meist Bürger- und Guerillakriege aus, kaum noch Staatenkriege. Müssen Sie und Ihre Kollegen deshalb neue Thesen entwickeln, wie Krisen innerhalb von Ländern gelöst werden können?

von Soest: Die Bedingungen bei einem Bürgerkrieg sind andere als bei einem Krieg zwischen Staaten. Innerhalb eines Landes kommt es auf das Verhältnis von Regierung, Gesellschaft und oppositioneller Gruppen an. Dabei spielt auch eine Rolle, ob es sich um Konflikte mit großer Einwirkung von außen handelt, oder um solche, die wenig Aufmerksamkeit finden und um die sich kaum ein fremder Akteur kümmert. Was das betrifft, ist in der Forschung der letzten Jahre neben anderen Entwicklungen wie der Nutzung von immer präziseren Konfliktdaten ein wesentlicher Trend zu beobachten, der sogenannte “local turn”. Damit ist gemeint: Viele Wissenschaftler aber auch Praktiker stellen das “liberal peacebuildung” infrage, also liberale Konzepte zur Friedensbildung – das heißt die Intervention von außen und die Anwendung der westlichen Staaten als Blaupause für Krisengebiete.

Was wäre ein Gegenmodell?

Ein klares Gegenmodell gibt es nicht, außer der Beachtung von lokalen Gegebenheiten. Aber unabhängig davon, wie man eingreift, ist unumstritten, dass den Bürgern bestimmte Grundrechte zustehen, die ein Staat einhalten muss. Etwas mehr Zurückhaltung zeigen Praktiker und Forscher inzwischen jedoch mit Forderungen, wie schnell und ausgedehnt eine Demokratie entstehen muss.

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Ist es nicht eine Zumutung für Länder, ihnen von außen ein Staatsmodell aufzudrücken?

Natürlich kann man nicht einfach von außen ein Modell einführen – und fertig. Das haben die Erfahrungen in Afghanistan und im Irak gezeigt. Grundsätzlich darf man nicht erwarten, dass sich in wenigen Jahren eine Demokratie nach westlichem Vorbild aufbauen lässt. Andererseits gibt es Grundprinzipien, die erfüllt werden müssen: Menschen- und Freiheitsrechte.

Sie beschäftigen sich in Ihren Forschungen zu Frieden und Sicherheit auch mit Sanktionen. Was genau untersuchen Sie?

Die Wirkung von Sanktionen auf die Stabilität von autoritären Regimen. Bevor man untersucht, wie Sanktionen wirken, muss klar sein, wie diese Regime versuchen, Stabilität herzustellen. Das heißt, unter welchen Bedingungen kann ein politisches System überleben und ab welchem Punkt nicht mehr? Darauf nehmen verschiedene Faktoren Einfluss: das Wirtschaftswachstum, der Handel mit anderen Ländern, das Ausmaß der Unterdrückung, oder auch die Frage, ob die Regierung über genügend Mittel zur Versorgung zumindest von Teilen der Bevölkerung verfügt, beispielsweise durch Sozialprogramme. Sanktionen vermindern den Fluss von Finanzen und Waren können nicht mehr exportiert werden. Beispiel Myanmar: Das Land durfte lange Zeit keine Tropenhölzer mehr ausführen. Also musste die Regierung neue Einkommensquellen und Abnehmer finden – oder die Einnahmen verringern sich. Und das kann gefährlich für die Regierung sein.

Sind Sanktionen ein Friedensmittel?

Sanktionen setzen sehr umfassende Wirkungsmechanismen in Gang. Was die Forschung gezeigt hat: Sanktionen können auch zur Eskalation eines Konflikts beitragen. Zudem können sie die Legitimität des Sanktionierten steigern. Nehmen Sie zum Beispiel Russland: Die Zustimmungsraten in der russischen Bevölkerung für Präsident Putin sind sicher auch wegen der Sanktionen gestiegen. Das ist ein Wagenburgeffekt: Bei Druck von außen rückt man zusammen. Das ist ein Dilemma für die Sanktionierer, denn diesen Solidarisierungseffekt will man nicht.

Wie wirken Sanktionen langfristig?

Sanktionen erfüllen mehrere Funktionen. Erstens will man eine Verhaltensänderung erreichen. Beispiel Russland: Das Land soll sich aus der Krim zurückziehen. Es ist aber unrealistisch, das zu erwarten. Aber mit Sanktionen – das ist die zweite Funktion – will man auch ein Signal senden, dass eine bestimmte Politik nicht akzeptabel ist und die Kosten dieser Politik erhöhen. Und eine dritte Funktion: Man möchte die Handlungsfähigkeit des sanktionierten Staates einschränken.

Im Iran haben die Sanktionen gewirkt – das Land ließ sich auf Verhandlungen ein. Aber die Bevölkerung hat auch viel gelitten.

Iran ist kein typischer Fall, zumindest was die Sanktionspraxis der vergangenen Jahre angeht. Zunehmend versuchen die Vereinten Nationen, die Vereinigten Staaten oder die Europäische Union, sich auf Entscheidungsträger und bestimmte Wirtschaftsbereiche zu konzentrieren. Es geht darum, Einreiseverbote gegen sie auszusprechen oder deren Konten zu sperren. Aber man will in der Regel nicht mehr eine ganze Wirtschaft vom internationalen Handel abtrennen – weil die Gleichung hohe wirtschaftliche Kosten gleich hohe politische Kosten in einem autoritären Regime nicht funktioniert. Auch im Irak gab es in den 1990er-Jahren weitreichende Sanktionen, aber Saddam Husseins Regierung hat die humanitäre Katastrophe im Land kalt gelassen.

Ihre Forschungsgruppe beschäftigt sich auch mit regionalem Krisenmanagement. Was verbirgt sich hinter diesem Begriff?

Ein Beispiel: In Afrika sind alle Länder bis auf Marokko, das jetzt wieder beigetreten ist, in der African Union. Wenn es in einem Land zu einem Putsch kommt, tritt oft die African Union in Aktion, wie jetzt in Gambia. Der ehemalige gambische Präsident Yahya Jammeh wollte nach verlorener Wahl seinen Posten nicht räumen, hat aber aufgegeben, nachdem ihm die Nachbarländer Sanktionen angedroht hatten und Vermittler der African Union und der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft Ecowas ihm klar gemacht haben, dass sie es nicht akzeptieren, dass er im Amt bleibt. Es ist ein Hoffnungszeichen, dass in diesem Fall die regionale Sicherheitsordnung geholfen hat. Es hat aber auch deshalb funktioniert, weil es zuvor ähnliche Fälle gab, die Jammeh sicher sein ließen, dass die African Union und Ecowas es ernst meinen.

Was ist an sich ein guter Friedensgarant?

Wichtig für einen nachhaltigen Frieden ist der Ausgleich zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, vor allem nach einem Konflikt. Das kann ein politischer Ausgleich sein, geografisch oder ökonomisch. Ein Beispiel ist Südafrika: Als man 1994 das Apartheid-Regime, also die systematische rassistische Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung, überwinden wollte, führte man mit der Wahrheits- und Versöhnungskommission ein innovatives Instrument zur Aufarbeitung der Vergangenheit ein. Außerdem schlossen die Führer des ANC und Mitglieder der ehemaligen Apartheid-Regierung einen Elitepakt. Man einigte sich auf eine politische Machtteilung für eine Übergangszeit und formte eine Regierung der nationalen Einheit. Im wirtschaftlichen Bereich verlief dieser Ausgleich allerdings sehr viel langsamer und ist bis heute nicht abgeschlossen.

Sie wollen mit Ihren Forschungen etwas bewirken – also Politiker beraten und Einfluss ausüben.

Das ist sehr wichtig für uns. Wir sind Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft. Deren Motto lautet “theoria cum praxi”, also „Forschung mit praktischem Nutzen”. Wir haben auch ein Büro in Berlin, in der Nähe des Bundestages, des Auswärtigen Amts und anderer Ministerien. Wir veranstalten dort regelmäßig Workshops oder organisieren Gesprächsrunden für politische Entscheidungsträger, Diplomaten, politische Stiftungen und Universitäten. Außerdem unterhalten wir Forschungsplattformen in Afrika, Asien, Lateinamerika und dem Nahen Osten, wo wir zusammen mit Partnern vor Ort regelmäßig Veranstaltungen organisieren.

Das Gespräch führte Karin Schlott.

 

  
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© wissenschaft.de – Karin Schlott
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