Kennen Sie einen Hagestolz? Oder das Gabelfrühstück? Und wissen Sie, was sich hinter einem Achtgroschenjungen verbirgt? Wenn nicht, sind Sie in guter Gesellschaft. Denn diese deutschen Wörter gehören zu denjenigen, die vor einigen Jahrzehnten zwar noch geläufig waren, heute aber so gut wie vergessen sind und kaum mehr benutzt werden. Dafür hätten unsere Urgroßeltern uns wohl kaum verstanden, wenn wir ihnen von Facebook-Flüchtlingen, von einem Elchtest oder von unserem Handy erzählen würden. Ein solcher Wandel ist völlig normal, denn auch Sprachen verändern sich mit der Zeit. Erfindungen oder bestimmte Ereignisse führen zu neuen Wortschöpfungen, andere Begriffe werden von anderen, beispielsweise aus einer andern Sprache importierten Wörtern abgelöst oder geraten in Vergessenheit, weil der Gegenstand dazu nicht mehr gebräuchlich ist.
Worthäufigkeiten im Laufe der Zeit
Ob und wie stark dieser lexikalische Wandel auch durch historische Ereignisse beeinflusst wird, hat nun Søren Wichmann vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig gemeinsam mit zwei russischen Kollegen untersucht. Für ihre Studie nutzten die Forscher Daten des sogenannten Google Books N-Gram Corpus. Basierend auf digitalisierten Büchern aus knapp fünf Jahrhunderten enthält diese Datenbank Informationen zur Häufigkeit von 862 Millionen Wörtern in acht Sprachen. Wichmann und seine Kollegen werteten zunächst für Englisch, dann auch für Deutsch, Italienisch, Russisch, Französisch und Spanisch die jährlichen Veränderungen in der Worthäufigkeit von 1840 bis heute aus.
Schon beim Blick auf das Englische fielen Zeitperioden auf, in denen besonders viele Wörter plötzlich deutlich seltener wurden, andere dafür neu auftauchten und stark an Häufigkeit zunahmen. „Vor allem die Peaks, die mit den beiden Weltkriegen zusammenfallen, stechen ins Auge“, berichten die Forscher. Umgekehrt veränderten sich Sprachgebrauch und Wortschatz in der politisch stabilen viktorianischen Ära Englands kaum. Ähnlich sieht es auch in der russischen Sprache aus, wie die Analysen ergaben: Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts gibt es kaum Veränderungen. Dann, zeitgleich mit der Oktoberrevolution und dem ersten Weltkrieg, schießt die Zahl der Sprachveränderungen extrem in die Höhe. Zwei weitere kleinere Peaks zeigen sich während des Zweiten Weltkriegs und um das Jahr 1989 herum – beim Zusammenbruch der Sowjetunion. „Das zeigt, dass bedeutende internationale historische Ereignisse sprachliche Veränderungen auslösen können, während das Potenzial für einen solchen Wandel in politisch stabilen Zeiten eher gedämpft wird“, konstatieren die Forscher.
Deutsch schwankte am meisten
Dabei reagieren die verschiedenen Sprachen offenbar unterschiedlich stark auf solche Ereignisse: Unter den sechs untersuchten Sprachen fluktuiert die Worthäufigkeit im Deutschen am stärksten, wie die Forscher berichten. Die Kurve der Veränderungen schlägt bei den beiden Weltkriegen am stärksten aus, aber auch zwei Rechtschreibreformen in den Jahren 1901 und 1996 haben in der Worthäufigkeit ihre Spuren hinterlassen. Ähnlich stark, wenn auch etwas weniger, wandelt sich der Sprachgebrauch im Italienischen, während das Spanische im 20. Jahrhundert kaum größere Schwankungen zeigt. Warum die Sprachen so unterschiedlich reagieren, lässt sich allein anhand der bisher analysierten Daten jedoch nicht ermitteln, betonen die Forscher. Klar ist aber: „Der Wortschatz einer Sprache reflektiert die Welt seiner Sprecher“, wie Wichmannn und seine Kollegen plakativ zusammenfassen.
Die Forscher wollten aber auch herausfinden, welche Wörter am ehesten die Zeiten überdauern und welche am anfälligsten dafür sind, zu verschwinden. Wie sich zeigte, gibt es dabei eine relativ klare Gesetzmäßigkeit: Wird ein Wort mit einer Frequenz von mehr als 10 hoch -3 gebraucht, wird seine Häufigkeit auch im Laufe der Zeit nur wenig schwanken. Solche Wörter, darunter auch Artikel, Präpositionen oder Konjunktionen bleiben relativ stabil, wie Wichmann und seine Kollegen feststellten. Zu diesem stabilen Wortschatz gehört auch das sogenannte Kernlexikon: die Wörter und Ausdrücke, die 75 Prozent einer Sprache ausmachen und eine Art Grundwortschatz darstellen. Anders sieht es nach Angaben der Forscher mit Wörtern aus, die ohnehin eher selten genutzt werden – oder die deshalb noch selten sind, weil sie gerade erst entstanden sind: Bei ihnen ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie entweder aussterben oder stark an Häufigkeit zunehmen, besonders groß, wie die Auswertungen ergaben.