Die Wissenschaftler um Thomas Müller von der University of Maryland in College Park arbeiteten mit Daten aus einem Projekt, bei dem von Menschenhand aufgezogene Vögel in ihrer natürlichen Umwelt ausgewildert werden. In mehreren Zuchtstationen werden die Kranichküken dazu gezüchtet. Ein seit 2001 laufendes Teilprojekt zielt darauf ab, im Osten der USA eine neue Population aufzubauen – über hundert Vögel umfasst diese bereits. Damit die jungen Kraniche den Weg ins über 3.000 Kilometer entfernte Florida finden, mussten die Biologen der Organisation „Operation Migration“ sie im Sumpfland von Wisconsin darauf trainieren, Ultraleichtflugzeugen zu folgen. So geleiteten die Forscher sie schließlich ins Winterquartier. Danach flogen die Vögel selbstständig und schlossen sich meist anderen Schreikranichen an. Über Peilsender und Beobachtungen vom Boden aus werden ihre Etappen nun kontinuierlich dokumentiert. Mittlerweile liegen für viele Vögel Migrationsdatenreihen über mehrere Jahre vor. Schreikraniche können ein Alter von über 30 Jahren erreichen.
Ein kluger Altvogel hält die Jungschar auf Kurs
Die Wissenschaftler fanden heraus, dass bei der Anwesenheit älterer Kraniche in einer Fluggruppe die Abweichung vom direkten Weg zwischen Sommer- und Winterquartier deutlich geringer war. Jungvögel, die in Gruppen mit älteren Tieren flogen, wichen im Durchschnitt nur 63,9 Kilometer vom direkten Weg ab, ohne Altvögel fliegende Jungkraniche dagegen im Durchschnitt um 97,1 Kilometer. Je älter der älteste Vogel einer Gruppe war, desto näher blieben die Vögel am direkten Weg. Gruppen mit mindestens einem Tier mit sieben Jahren Flugerfahrung wichen durchschnittlich 38 Prozent weniger vom direktem Weg ab als Gruppen mit nur einjährigen Individuen.
Die Auswertung ergaben außerdem, dass weder genetische Verwandtschaft noch Geschlecht einen Einfluss darauf hat, wie nahe die einzelnen Kraniche am direkten Weg bleiben. Auch die Gruppengröße wirkt sich nicht aus: „Man könnte annehmen, dass größere Gruppen und damit der Input aus mehr Gehirnen zu besserer Navigation führen. Dieser Effekt lässt sich aber nicht nachweisen“, sagt Co-Autor William Fagan von der University of Maryland. Es reicht sogar bereits ein erfahrenes Mitglied pro Gruppe aus, um diese näher am richtigen Weg zu halten. Wahrscheinlich sind die älteren Vögel besser in der Lage, Orientierungspunkte zu erkennen und mit schlechten Wetterbedingungen, beispielsweise starken Herbstwinden, zurecht zu kommen.
Ist auch Jungtieraufzucht Lernsache?
Thomas Müller hofft nun, dass sich auch in einem anderen Feld ein Lerneffekt zeigt: „Die ausgewilderten Schreikraniche brüten bislang nicht sehr erfolgreich. Aber vielleicht können wir ja analog zur Orientierungsfähigkeit darauf hoffen, dass mit steigendem Alter künftig auch der Bruterfolg größer wird.“ Schreikraniche waren fast ausgestorben – es wäre nicht erstaunlich, wenn die Vögel manches neu erlernen müssten, so möglicherweise auch, wie sie ihre Küken aufziehen. Solche Verhaltensweisen haben sich über Jahrtausende entwickelt, und das entsprechende Wissen muss neu aufgebaut werden, bevor es von den erfahrenen Vögeln an den Nachwuchs weitergegeben werden kann.