Bei einer speziellen Gruppe scheinen die klassischen Viren-Kriterien allerdings etwas zu verwischen, hatten frühere Studien bereits gezeigt: Die Riesenviren besitzen große Genome, die teilweise sogar die von einfachen Bakterienarten übertreffen. Die Komplexität dieser Viren umfasst sogar Enzyme, die an der Übersetzung des genetischen Codes in Proteine beteiligt sind. Ein überraschendes Ergebnis, denn Viren fehlen alle anderen bekannten Protein-Bausysteme. „Riesenviren besitzen eine ungewöhnliche Komplexität, die der von zellulären Lebewesen ähnelt?, sagt Caetano-Anollés. ?Wir wollten wissen, warum?.
Um in die Entwicklungsgeschichte der Viren zu blicken, verwendeten die Forscher um Caetano-Anollés eine raffinierte Methode: Sie suchten nach Hinweisen in den dreidimensionalen Strukturen von Proteinen. Diese Eigenschaften sind wie molekulare Fossilien, die auf evolutionäre Ereignisse hindeuten, erklären die Wissenschaftler. Einige Proteinfaltungen erscheinen nur in einer Gruppe von Organismen, während andere bei mehreren oder allen ähnlich sind. Sie sind demzufolge sehr urtümlich, so die Interpretation. ?Genau wie Paläontologen, schauen wir auf bestimmte Proteineigenschaften und können daran nachvollziehen, wie sie sich im Laufe der Evolution veränderten“, sagt Caetano-Anollés. Bisher wurden Proteine von Viren in solche Untersuchungen allerdings kaum einbezogen. Nun bauten sie die Forscher in umfangreiche Untersuchungen zu den Proteinfaltungen ein, die mehr als 1.000 Organismen aus den Gruppen der Bakterien, Archaebakterien und den Eukaryoten umfassten.
Die ?paläontologischen? Proteinvergleiche zeigten, dass viele der ältesten Proteinfaltungen, die es in zellulären Organismen gibt, auch bei den Riesenviren vorkommen. Dies deute darauf hin, dass entsprechende Urformen sehr früh in der Evolution erschienen – nah an der Wurzel des Baumes des Lebens, sagt Caetano-Anollés. Die Riesenviren waren wahrscheinlich ursprünglich viel komplexer als sie es heute sind. Im Laufe der Zeit verkleinerte sich ihr Genom dann zunehmend. Sie sind aber den gemeinsamen Urahnen immer noch näher als die heutigen kleinen Viren, vermuten die Forscher. Ihren Ergebnissen entsprechend integrierten die Forscher die Viren letztendlich in den Baum des Lebens, in dem sie nach ihrer Ansicht neben Bakterien, Archaeen und Eukaryoten einen eigenen Zweig bilden.