Wenn es um die Rekonstruktion der Abstammung geht, greifen Forscher meist auf die DNA der weiblichen Mitochondrien oder der männlichen Geschlechtschromosomen zurück. Denn diese Gensequenzen werden nur jeweils von der Mutter an die Töchter oder vom Vater an seine Söhne weitergegeben. Das ermöglicht eine Rekonstruktion der weiblichen oder männlichen Abstammungslinien. Auch Chiara Batini von der University of Leicester und ihre Kollegen wählten diese Methodik: Sie analysierten und verglichen Sequenzen vom Y-Chromosom von 334 Männern aus 17 verschiedenen Volksgruppen Europas und des Nahen Ostens. Mit Hilfe neuer Methoden der Genanalyse konnte sie darüber die Verteilung von fast 6.000 einzelnen Genbuchstaben ermitteln und diese als Grundlage für einen Stammbaum nutzen.
Bevölkerungs-Explosion in der Bronzezeit
Die Ergebnisse zeigten Überraschendes: Neben der schon bekannten Einwanderung von jungsteinzeitlichen Bauern aus dem Nahen und Mittleren Osten nach Europa fanden die Forscher auch Hinweise auf eine spätere, deutliche Veränderung: 13 von 17 Volksgruppen erreichten vor rund 4.200 bis 2.100 Jahren einen Bevölkerungs-Engpass, um anschließend rapide anzuwachsen. Interessanterweise scheint von dieser Expansion vor allem der männliche Teil der Bevölkerung profitiert zu haben. Denn frühere Studien an weiblichen mitochondrialen Genen fanden keine Hinweise auf ein solches bronzezeitliches Bevölkerungswachstum. “Diese Populations-Explosion reichte vom Balkan bis zu den Britischen Inseln”, so die Forscher. “Angesichts ihres geringen Alters und eines fehlenden geografischen Musters muss der Ursprung dieses Wandels auf anderes als das Aufkommen der Landwirtschaft zurückgehen.”
Noch spannender: Zwei Drittel der untersuchten heutigen Männer gehen offenbar auf nur drei Vorfahren zurück, die vor maximal 7.300 Jahren lebten. Wer diese sind und warum das so ist, bleibt allerdings bisher rätselhaft. “Angesichts der kulturellen Komplexität der Bronzezeit ist es schwierig, diesem Geschehen ein spezifisches Ereignis zuzuordnen”, sagt Batini. Eine Vermutung haben die Forscher aber durchaus: Sie sehen eine Verbindung zur Einwanderung von Reiternomaden aus den eurasischen Steppengebieten. “Das Bevölkerungswachstum fällt in eine Zeit, in der es einen Wandel der Begräbnissitten gab, sich das Reiten in Europa ausbreitete und es neue Entwicklungen bei Waffen gab”, erklärt Seniorautor Mark Jobling von der University of Leicester. “Dominante Männer, die mit diesen neuen Kulturen verbunden waren, könnten durchaus für die heute sichtbaren Genmuster der Y-Chromosomen verantwortlich gewesen sein.” Die Forscher hoffen, durch Untersuchungen der Y-Chromosomen auch von Skeletten aus dieser Zeit nähere Aufschlüsse zu gewinnen