Ein Forscherteam des Italian National Research Council CNR in Pisa und Avellino hat jetzt in einer kleinen Pilotstudie die Auswirkungen der ständigen Exposition dieser vergleichsweise niedrig dosierten Röntgenstrahlen getestet ? schließlich hatte schon Paracelsus die Hypothese aufgestellt, dass sich geringe Dosen schädlicher oder giftiger Substanzen positiv auf den Organismus auswirken können. Dazu verglichen die Wissenschaftler um Gian Luigi Russo insgesamt zehn Kardiologen, die der Strahlung ausgesetzt waren, mit zehn Arbeitern, die nicht regelmäßig mit Röntgenstrahlung oder anderer ionisierender Strahlung in Berührung kamen.
Von den beiden Versuchsgruppen nahmen die Forscher Blutproben, die sie auf verschiedene Substanzen und Enzyme untersuchten, darunter das Antioxidans Glutathion, das zu den reaktiven Sauerstoffspezies (ROS) ? oder „freien Radikalen“ ? gehörende Wasserstoffperoxid und Caspase-3, ein Enzym, das eine Schlüsselrolle beim Auslösen des Zellselbstmordes spielt. Glutathion und Wasserstoffperoxid sind praktisch Gegenspieler: Während letzteres die Stärke des oxidativen Stresses einer Zelle repräsentiert und typischerweise beim Kontakt mit ionisierenden Strahlen ansteigt, schützt Glutathion als Antioxidans die Zelle vor den Schäden, die diese aggressiven Teilchen anrichten können.
Das Ergebnis der Analyse: Das Blut der Kardiologen enthielt mehr Wasserstoffperoxid, aber auch mehr Glutathion als das der Vergleichsgruppe. Zudem war vor allem in den Lymphozyten, die als weiße Blutkörperchen zu den Fußtruppen des Immunsystems gehören, die Caspase-3 übermäßig aktiv ? sie neigen also eher dazu, Selbstmord zu begehen. Die Forscher interpretieren das so: Offenbar könne auch ein Strahlungslevel, das offiziell als unschädlich gilt, grundlegende biologische und zelluläre Veränderungen und Anpassungen hervorrufen. Dadurch werde zum einen die Zunahme an ROS, die auf die Strahlenexposition zurückgeht, durch eine Verbesserung der antioxidativen Verteidigungsmechanismen aufgefangen. Zum anderen könne man die erhöhte Anfälligkeit der Lymphozyten für die Apoptose, den Zellselbstmord, ebenfalls als einen ausgleichenden Mechanismus betrachten, der dazu dient, Zellen mit beschädigtem Erbgut effizient zu beseitigen und so deren Entartung zu verhindern.
Der Kardiologe Thomas Münzel von der Universität Mainz bewertet die Ergebnisse in einem Editorial zur Studie als „sehr interessant“, weist aber auch auf die limitierenden Faktoren der Arbeit hin: Die Studie sei an einer zu geringen Zahl an Versuchspersonen durchgeführt worden, außerdem sei es kompliziert, den Einfluss der Strahlung abzuschätzen, da andere Faktoren wie Rauchen einen weitaus größeren Effekt haben könnten und ebenso wie etwa der Body-Mass-Index nicht berücksichtigt wurden.
Daher schreiben Münzel und sein ebenfalls in Mainz arbeitender Kollege Tommaso Gori: Es sei noch mehr Forschung nötig ? sowohl bei den Grundlagen, um die genaue Beziehung zwischen den schädigenden Effekten der ionisierenden Strahlung und den anregenden Phänomenen zu verstehen, als auch in der Epidemiologie. „Während die Effekte ionisierender Strahlung noch nicht ganz verstanden sind, ist es unsere Verantwortung als Mediziner, alle Vorkehrungen zu treffen, um jede potenzielle Gefahr für unsere Patienten, unsere Mitarbeiter und uns zu minimieren.?