Kindesmisshandlung kann bei den Opfern noch Jahre später die Signalübertragung im Gehirn beeinflussen: Ein Protein, das auf Stresssignale reagiert, ist bei Opfern nur in deutlich geringeren Mengen vorhanden als bei Menschen, die als Kind nicht misshandelt wurden. Das haben Forscher jetzt mit einer ungewöhnlichen Methode festgestellt: Sie untersuchten Gehirnzellen in den Leichen von Selbstmördern.
Wenn der Mensch unter Stress steht, aktiviert der sogenannte Glucocorticoidrezeptor NR3C1 bestimmte Systeme im Gehirn, die auf den Stress reagieren. Die Forscher suchten nun in Zellen der Gehirnregion Hippocampus von Suizidopfern nach Kopien des genetischen Bauplans für das entsprechende Rezeptor-Protein, mRNAs genannt. Sie sind unverzichtbar für den Aufbau des Proteins. Das Ergebnis: Bei den Menschen, die als Kind Misshandlungen erlitten hatten, fanden sich deutlich weniger Rezeptor-mRNA-Kopien als bei denjenigen Suizidopfern, die nicht misshandelt worden waren. Die Forscher schließen daraus, dass im Gehirn der Misshandlungsopfer auch wesentlich weniger Rezeptoren gebildet wurden.
Bei Ratten beeinflussen Störungen des Mutter-Kind-Verhältnisses die Übersetzung des Rezeptor-Gens zum Protein in ähnlicher Weise, hatten bereits frühere Studien gezeigt. Die Forscher übertragen diese Ergebnisse nun auf den Menschen. Sie vermuten, dass Misshandlungsopfer aufgrund der verminderten Rezeptoranzahl schlechter auf Stress reagieren können und daher anfälliger für Depressionen sind. Die Wissenschaftler verfügen allerdings über keine Vergleichsdaten von Misshandlungsopfern, die sich nicht umgebracht haben und können daher keinen Zusammenhang mit der Selbstmordgefährdung nachweisen.
Patrick McGowan (McGill-Universität, Montreal) et al.: Nature Neuroscience, Online-Vorabveröffentlichung, DOI: 10.1038/nn.2270 ddp/wissenschaft.de ? Martin Rötzschke