Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Was am Ende zählt

Palliativmedizin

Was am Ende zählt
Herr M. war ein erfolgreicher Geschäftsmann, bevor er mit 48 Jahren an amyotropher Lateralsklerose (ALS) erkrankte. Die ALS ist eine unheilbare Krankheit mit fortschreitendem Muskelschwund, die meist in zwei bis drei Jahren zum Tode durch Atemlähmung führt. Und doch erzählte uns Herr M. bei einem Besuch in unserer Ambulanz: „Wissen Sie, so komisch es klingt, aber ich meine, dass meine Lebensqualität heute besser ist als vor der Erkrankung. Damals hatte ich keine Zeit, war erfolgreich und gestresst. Jetzt habe ich viel Zeit und habe vor allem gelernt, in dieser Zeit zu leben, einfach da zu sein.“

Die Geschichte von Herrn M. erwischt uns auf dem falschen Fuß. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Jugend, Wohlstand und Gesundheit als die höchsten Werte gelten. Wie kann man denn sagen, dass man mit einer schweren, zum Tode führenden Krankheit eine bessere Lebensqualität empfindet als ohne? Die Forschung über Lebensqualität hat schon länger solche scheinbaren ­Widersprüche aufgedeckt. Das sogenannte Lebensqualität-Paradoxon besagt, dass die subjektiv gespürte Lebensqualität, gemessen in verschiedensten Ländern der Erde, nicht unbedingt mit dem Bruttosozialprodukt ­zusammenhängt.

Aber was hat das mit Palliativmedizin zu tun? Nun, nach der Definition durch die Weltgesundheitsorganisation gibt es einige wichtige Unterschiede zwischen Palliativmedizin und „klassischer“ Medizin. Zum einen wird nicht nur der Patient, sondern sein gesamtes soziales Umfeld mitbetreut. Zum anderen werden nicht nur die physischen, sondern auch die psychosozialen und spirituellen Probleme behandelt. Und am wichtigsten: Palliativmedizin zielt nicht mehr auf Heilung oder ­Lebensverlängerung, sondern ausschließlich auf die ­Verbesserung der Lebensqualität.

Kann man Lebensqualität messen?

In der modernen evidenzbasierten Medizin müssen wir allerdings beweisen, dass wir unsere Ziele auch erreichen. Dazu ist es notwendig, die Lebensqualität der Patienten und deren Veränderung durch die Palliativbetreuung zu erfassen. Nun gibt es zahlreiche Argu­mente gegen die Vorstellung, dass man Lebensqualität überhaupt messen kann, ja darf. Philosophen argumentieren, Lebensqualität sei inhärent subjektiv und hoch­indivi­duell. Sie ließe sich daher nicht verlässlich erfassen und schon gar nicht bei unterschiedlichen Individuen vergleichen.

Tatsächlich gibt es sehr viele verschiedene Frage­bögen, die vorgeben, Lebensqualität zu messen. Sie alle haben zwei Dinge gemeinsam: Zum einen enthalten sie eine feste Zahl an Fragen mit vorgegebenen Antwortmöglichkeiten, sodass der Spielraum des Befragten sehr eingeschränkt ist. Zum anderen messen sie nicht das subjektive Wohlbefinden der Patienten, sondern fast ausschließlich deren funktionellen Gesundheitszustand. Damit sind sie als Messinstrumente für Studien, welche eben diesen Gesundheitszustand verbessern wollen
– zum Beispiel Medikamentenstudien – durchaus ­ge­eignet, aber für die Beurteilung dessen, was die ­Lebensqualität eines Menschen wirklich ausmacht, ­greifen sie zu kurz.

Anzeige

Die heutige Medizin hat leider die Angewohnheit, auf einen kranken Menschen als eine Ansammlung von mehr oder weniger gut funktionierenden Organen herabzuschauen. Wenn zu viele Fehlfunktionen bestehen, wird automatisch davon ausgegangen, dass auch die Lebensqualität dieses Menschen sehr niedrig sei. Die Palliativmedizin, die von ­ihrem Ansatz her interprofessionell arbeitet, hat von der sozialen Arbeit gelernt, einen systemischen Blick auf den Patienten mitsamt seinem sozialen Umfeld und seinen Ressourcen zu richten. Herr M. hatte zum Beispiel eine sehr gute Beziehung zu seiner Frau und hatte sich seit seiner Diagnose intensiv der Meditation zugewandt.

Entscheidend ist das individuelle Empfinden

Was ist also eigentlich Lebensqualität? Die beste Antwort, die ich kenne, stammt vom irischen Psychologen Ciarán O’Boyle: Lebensqualität ist das, was der Patient sagt. Ausgehend davon hat O’Boyle eine Messmethode für individuelle Lebensqualität entwickelt. Dabei werden keine Fragebögen verwendet, sondern die Patienten selbst werden gefragt, welche die fünf wichtigsten Bereiche für ihre Lebensqualität seien. Sie dürfen völlig frei wählen, ohne jede Vorgabe. Danach sollen sie zu jedem Bereich ihre Zufriedenheit von 0 bis 100 angeben und schließlich die Bereiche zueinander gewichten. Daraus lässt sich ein Gesamtwert der individuellen Lebensqualität errechnen. Wir konnten in einer Studie nachweisen, dass ­Palliativpatienten diese Art der Messung ihrer Lebensqualität den Standardfragebögen deutlich vorziehen.

Bei der Befragung von ALS-Patienten mit dieser Methode zeigte sich, dass – nicht überraschend – die zwei wichtigsten Lebensqualitätsbereiche Familie und Gesundheit sind. Was indes überraschte war, dass 100 Prozent der Befragten die Familie angab, aber nur 53 Prozent die Gesundheit. Und diejenigen, welche die Gesundheit nicht nannten, hatten eine bessere Lebensqualität. Wenn man diese Untersuchung mehrfach im Krankheitsverlauf wiederholt, kann man daran den Anpassungsprozess eines Patienten an die schwere Krankheit eindrucksvoll beobachten.

Gian Domenico Borasio (Foto: Felix Imhof/ UNIL)Das Verfahren wurde bei sehr vielen Patientengruppen und gesunden Menschen angewendet, und bei Weitem die höchste Zuverlässigkeit der Antworten fand sich bei Palliativ- und ALS-Patienten. Schwerstkranke kennen also nachweislich besser als Gesunde ihre Prioritäten im Leben. Als Grund könnte man vermuten, dass sie gelernt haben – lernen mussten – im Angesicht des Todes zu leben.

Dazu passt eine Untersuchung über die Wertvorstellungen Sterbender, die der Psychotherapeut Martin Fegg durchgeführt hat. Menschen, die den Tod vor Augen haben, entdecken die Wichtigkeit der anderen: Bei praktisch allen Schwerstkranken zeigt sich, unabhängig von ihrer Religion oder der Art ihrer Krankheit, eine Verschiebung der persönlichen Wertvorstellungen hin zum Altruismus – in krassem Gegensatz zu den bei Gesunden vorherrschenden egoistischen Werten. Die „Belohnung“ dafür ist eine gute Lebensqualität trotz fortschreitender Krankheit. Die Frage drängt sich auf: Was können wir tun, um diese Erkenntnis für uns selbst zu erreichen, bevor es ans Sterben geht?

Auch wir können unsere Lebensqualität verbessern

Vielleicht ein kleiner Hinweis: In der Untersuchung über die Bereiche, die für die Lebensqualität wichtig sind, nannten über 80 Prozent der Palliativpatienten mindestens einen existenziellen oder spirituell/religiösen Bereich, viel häufiger als Gesunde. Diese Fragen scheinen also eine umso größere Bedeutung zu bekommen, je näher man sich dem Tod fühlt.

Ein indianischer Häuptling sagte einmal „Suffering begins where the pain ends“ („Das Leiden beginnt dort, wo der physische Schmerz aufhört“). Palliativmedizin ist weit mehr als nur Schmerztherapie und Symptomkontrolle. Die psychosoziale Betreuung und die spirituelle Begleitung machen mindestens die Hälfte der Arbeit auf einer Palliativstation aus. Da wir wissen, dass die nicht-physischen Bereiche für die Lebensqualität am ­Lebensende von ungleich größerer Bedeutung sind als die körperlichen Beschwerden, sollten wir dafür auch mehr Ressourcen verwenden und diese Gebiete stärker erforschen. Zumal uns die Studien zeigen, dass die große Mehrheit der Wünsche nach Lebensverkürzung bei Palliativpatienten wegen des subjektiven Verlusts von Würde und Lebenssinn zustande kommt.

Was können wir aus alledem für uns selbst mit­nehmen? Im Großen und Ganzen, das erlebe ich immer wieder, sterben die Menschen so, wie sie gelebt haben. ­Dame Cicely Saunders, die 2005 verstorbene Begründerin der Palliativmedizin, sagte einmal: „Es ist nicht das Schlimmste für einen Menschen, festzustellen, dass er gelebt hat, und jetzt sterben muss; das Schlimmste ist, festzustellen, dass man nicht gelebt hat, und jetzt sterben muss.“ Wenn wir also gut sterben wollen, müssen wir vor allem auf eines achten: dass wir unser eigenes Leben nicht verpassen.  

 

Zum Autor:

Gian Domenico Borasio ist Professor für Palliativmedizin an der Universität Lausanne und Lehrbeauftragter für Palliativmedizin an der TU München. Ihm ist es maßgeblich zu verdanken, dass sich heute jeder Medizinstudent in Deutschland und in der Schweiz mit der Begleitung Sterbender auseinandersetzen muss. Von 2006 bis 2011 hat Borasio (*1962) als Lehrstuhlinhaber für Palliativmedizin an der Universität München ein Netzwerk an Professuren geschaffen, das alle Bereiche der physischen, psychoso­zi­alen und spirituellen Sterbebegleitung in die Lehre und Forschung integriert. Sein 2011 erschienenes Buch „Über das Sterben“ wurde rasch zum Bestseller. bild der wissenschaft hat es als Wissensbuch des ­Jahres ausgezeichnet. 2014 erschien sein Buch „selbst bestimmt sterben“.

© wissenschaft.de – Gian Domenico Borasio
Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

Com|pu|ter|freak  〈[–pjut(r)fri:k] m. 6; IT; umg.〉 jmd., der sich intensiv mit Computern beschäftigt

Klis|tier|sprit|ze  〈f. 19; Med.〉 Gummispritze für Klistiere

Ex|stir|pa|ti|on  〈f. 20; Med.〉 das Exstirpieren, vollständige Entfernung eines kranken Organs od. einer Geschwulst auf chirurg. Wege [<lat. exstirpatio … mehr

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige