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Die Bio-Bandscheibe aus der Petrischale

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Die Bio-Bandscheibe aus der Petrischale
Bandscheibenprobleme sind äußerst schmerzhaft ? und nur schwer zu behandeln. Abhilfe schaffen könnte ein biologischer Bandscheibenersatz, der die Funktion des verschlissenen Gewebes übernimmt. Ein US-Forscherteam hat jetzt einen wichtigen Etappensieg auf dem Weg dorthin errungen: Es gelang ihm, eine künstliche Bandscheibe zu bauen, deren Struktur und mechanische Eigenschaften denen des echten Gewebes ähneln und die zumindest bei Ratten fest mit der Wirbelsäule verwachsen kann. Die Kunst-Bandscheibe besteht aus einem weichen, gelartigen Kern aus Alginat, einem Vielfachzucker aus Algen, und einem festeren äußeren Ring aus Kollagen. Beide Teile enthielten darüber hinaus lebende Zellen aus den Bandscheiben von Schafen. Einmal in die Ratten implantiert, sorgten vor allem diese Zellen dafür, dass das Material vom Körper angenommen und anstelle einer fehlenden Bandscheibe in die Wirbelsäule integriert wurde. Die künstliche Bandscheibe übernahm nahezu vollständig die Funktion der echten und veränderte auch ihre Form fast nicht, berichten die Forscher. Bis zum Bandscheibenersatz für Rückenschmerzgeplagte ist es aber trotz dieses Erfolges noch ein weiter Weg.

Wer unter stark verschlissenen Bandscheiben leidet, hat im Moment vor allem zwei Optionen: Die eine ist eine Operation, in der die beiden angrenzenden Wirbel fest miteinander verbunden und die Wirbelsäule so an dieser Stelle versteift wird. Die andere ist der Einsatz einer Bandscheibenprothese, die im Allgemeinen mithilfe von Metallplatten in den Wirbeln verankert wird und aus zwei Kunststoffplatten besteht, die mit einer Art Scharnier gegeneinander bewegt werden können. Patienten sind mit diesen Prothesen zwar beweglicher als nach der Versteifungsoperation. Ihre ursprüngliche Mobilität und Belastbarkeit wird jedoch bei keiner der beiden Methoden wiederhergestellt.

Zudem stehen die Prothesen in der Kritik, weil Studien zu ihrer Haltbarkeit und zum langfristigen Erfolg des Eingriffs widersprüchliche Ergebnisse liefern. So kann es beispielsweise zu einem Abwandern des Implantats kommen, was das Rückenmark und die restliche Architektur der Wirbelsäule gefährdet. Auch gibt es Berichte darüber, dass nach einiger Zeit die umliegenden Bandscheiben übermäßig stark degenerieren. Schließlich gilt auch der Abrieb der künstlichen Materialien als problematisch.

Laut Studienleiter Lawrence Bonassar vom Weill Cornell Medical College in New York gehen viele der Probleme mit den Prothesen darauf zurück, dass sie einen völlig anderen Aufbau besitzen als die natürliche Bandscheibe ? und deswegen auf Belastungen vollkommen anders reagieren. Er und sein Team setzten sich daher zum Ziel, einen Bandscheibenersatz zu entwerfen, der zum einen aus einem möglichst natürlichen, körperähnlichen Material besteht und der zum anderen die typische Bandscheibenstruktur nachahmt. Dazu erzeugten die Bioingenieure zuerst ein Pendant zum gelartigen Kern der Bandscheibe, dem Nucleus pulposus. Dazu mischten sie eine Alginatlösung mit Nucleus-pulposus-Zellen aus der Bandscheibe eines Schafs und gossen sie in eine individuell angefertigte Kunststoffform, die in Aussehen und Größe exakt auf die zu ersetzende Bandscheibe abgestimmt war.

Im zweiten Schritt umgaben die Wissenschaftler den Gelkern mit einem festeren Faserring. Dazu entfernten sie die Form, nachdem sich die Lösung zu einem Gel verfestigt hatte, und gaben den Kern in eine Kollagenlösung, die ebenfalls mit Schafzellen angereichert war ? diesmal aus dem sogenannten Anulus fibrosus, dem äußeren, knorpelartigen Ring der Bandscheibe. Das fertige Kunstgewebe setzten sie anschließend Ratten ein, bei denen sie eine der natürlichen Bandscheiben im Schwanzbereich entfernt hatten. Das Implantat sei nach sechs Monaten bemerkenswert gut in die Wirbelsäule integriert gewesen, schreibt das Team. Es war kaum geschrumpft, hatte nur wenig an Höhe verloren und war fest an die angrenzenden Wirbelkörper angewachsen. Was die mechanische Funktion anging, hatte die Rolle der natürlichen Bandscheibe fast vollständig übernommen und reagierte ähnlich auf Belastungen wie das ursprüngliche Gewebe.

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Bevor solche künstlichen Bandscheiben in klinischen Studien oder gar in der täglichen Praxis eingesetzt werden können, gilt es jedoch noch eine Reihe von Fragen zu klären. Die im Test verwendeten Ratten besaßen beispielsweise nur ein eingeschränkt arbeitendes Immunsystem. Es ist daher nicht auszuschließen, dass das Kunstgewebe vom Körper abgestoßen würde, wenn man es in ein unverändertes Tier implantierte. Zudem scheinen die von den Wissenschaftlern verwendeten Schafszellen recht schnell zu altern und ihre Funktion zu verlieren. Wenn die Implantate viele Jahre lang halten sollen, müsste also nach einem Ersatz gesucht werden.

Da eine menschliche Bandscheibe außerdem um vieles größer ist als die Rattenvariante, ist es laut den Forscher fraglich, dass sie ebenso gut in die Lücke hineinwächst wie im Test. Die Größe erschwere nämlich den Nährstoff- und Flüssigkeitstransport ins Innere der künstlichen Bandscheibe. Und schlussendlich sei die mechanische Belastung im Rattenschwanz völlig anders als die, die auf eine Bandscheibe in der menschlichen Wirbelsäule wirkt ? ob die Kunstvariante das aushält, lasse sich bisher noch nicht sagen. Dennoch zeigten die Ergebnisse, dass der Ansatz, künstliche Bandscheiben per Tissue Engineering in der Petrischale herzustellen, prinzipiell sehr erfolgsversprechend sei, so das Resümee der Wissenschaftler.

Robby Bowles (Cornell University, Ithaca) et al.: PNAS, Online-Vorabveröffentlichung, doi: 10.1073/pnas.1107094108 wissenschaft.de ? Ilka Lehnen-Beyel
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