Braak hat bereits zu Beginn der 1990er-Jahre das Fortschreiten der degenerativen Krankheit im Gehirn genau beschrieben. Der Neuroanatom benutzte dazu angefärbte Schnitte aus den Gehirnen verstorbener Menschen und definierte die Stadien des Verfalls. Die sogenannten Braak-Stadien gelten heute weltweit als Standard für die Einteilung des Verlaufs der Alzheimer-Krankheit. Schon damals fiel Braak auf, dass bereits sehr junge Menschen ohne jegliche Anzeichen für Vergesslichkeit alzheimertypische Veränderungen im Großhirn haben können.
Nun aber hat er in einer systematischen Untersuchung, die auch Kinderhirne einbezog, nach ?noch empfindlicheren Nervenzellen? gefahndet ? und ist fündig geworden: Im Hirnstamm gibt es Regionen, in denen sich schon ganz früh erste Fäden (Fibrillen) aus abnormem Eiweiß ? phosphorylierten Tau-Proteinen ? ausbilden. Braak fand Vorstufen davon in 19 von 42 untersuchten Gehirnen junger Menschen unter 30 Jahren, und zwar im Locus coeruleus, den er nun für den ?Quellort der alzheimertypischen Veränderungen? hält. Braaks Verdacht: Nerven, die aus diesem Kerngebiet Signale ans Großhirn weiterleiten, geben auch die falsch gefalteten Proteine weiter ? ein infektiöser Prozess, wie man ihn von Prionenkrankheiten, etwa der Rinderseuche BSE, kennt.
Wie eine Dampfwalze
Mit seiner Hypothese, dass das missgebildete Tau-Protein die Alzheimer-Krankheit auslöst, schwimmt der Altmeister gegen den Hauptstrom seiner Fachkollegen. Diese setzen seit einigen Jahren mehrheitlich auf einen anderen Schuldigen: das Amyloid-beta-Protein, das sich ebenfalls falsch falten und verklumpen kann. Zusammen mit anderen Abfallprodukten des Hirnstoffwechsels bildet es die dicken Flecken (Plaques), die für die zerstörten Gehirne schwer alzheimerkranker Menschen so typisch sind. Die Tau-Fibrillen gelten den Vertretern der Mehrheitsmeinung als Nebenprodukt der Krankheit. Braak dagegen ist fest überzeugt, dass es umgekehrt ist: erst Tau, dann Amyloid beta. In den jungen Gehirnen fand er nämlich ? bis auf eine Ausnahme ? kein verändertes Amyloid.
Doch welches Bild ergibt sich nun von dem ?Altersleiden?, wenn seine ersten Spuren schon bei Kindern sichtbar werden? Ein düsteres Bild. Braak beschreibt es so: ?Die Krankheit schreitet systematisch voran, sehr langsam, aber unaufhaltsam und unerbittlich, wie eine Dampfwalze. Sie entwickelt sich über viele Jahrzehnte, ja, das ganze Leben.? Könnte man sie künftig aufhalten? ?Ja, wenn es gelingt, auch in lebenden Gehirnen die ganz frühen Anzeichen sichtbar zu machen.? Wären neue diagnostische Verfahren in der Lage, einzelne mit falschem Tau gefüllte Neuronen im Hirnstamm aufzuspüren, und könnte man diese mit neuen therapeutischen Methoden zerstören, ließe sich ohne schwere Schäden der weitere Verfallsprozess stoppen.
Denn mit dem Alter an sich habe Alzheimer nichts zu tun, sagt der leidenschaftliche Forscher, der im Juni 74 wird, mit Nachdruck. Weder oxidativer Stress noch chronische Entzündungen noch andere bekannte Anzeichen der Zellalterung könnten den alzheimertypischen Hirnverfall plausibel erklären. Denn dieser betreffe nur ganz spezifische Typen von Hirnzellen, das Alter aber erfasse das ganze Gehirn.