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Sigmund Freuds Kränkungen sind irreführend

Gesellschaft|Psychologie Kommentare

Sigmund Freuds Kränkungen sind irreführend
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Der Begründer der Psychoanalyse: Sigmund Freud, 1926 (Foto: Ferdinand Schmutzer)
„Eine Schwierigkeit mit der Psychoanalyse“ – so heißt ein Aufsatz von Sigmund Freud, den er vor 100 Jahren veröffentlichte. Darin schreibt der Begründer der Tiefenpsychologie, dass viele seiner Patienten sich nicht begeistert zeigten, als ihre psychischen Probleme mit unbewussten sexuellen Orientierungen oder Erfahrungen erklärt wurden. Sie lehnten solche Verbindungen ab und fürchteten sich sogar davor. Freud veranlasste diese Abwehrhaltung nicht, seine Theorie zu bedenken. Im Gegenteil! Er ging zum Gegenangriff über und kränkte die Kranken.

In seinem Aufsatz „Eine Schwierigkeit mit der Psychoanalyse“ schreibt Freud, die Abwehrhaltung der Patienten zeige ihm, wie richtig seine Einschätzung war – und fügt dem Schaden der sich ihm Anvertrauenden noch seinen Spott hinzu, indem er ihre kleinbürgerlichen Zweifel als Unbehagen an seiner grandiosen Seelendeutung versteht. Und da Freud gerade dabei war, die Größe seiner eigenen Theorie zu bewundern, gab er ihr eine historische Dimension und siedelte sie auf ungeheurer Höhe an. Freud stellte sich in eine Reihe mit dem legendären Nikolaus Kopernikus und dem überlebensgroßen Charles Darwin und behauptet, ihm sei dasselbe gelungen wie die beiden Stars der Wissenschaft: nämlich den Menschen zu kränken. Doch diese Kränkung traf vor allem seine Patienten.

Freud meinte das ernst. In seiner Sicht der Dinge haben zwei Entdeckungen dem menschlichen Narzissmus eine schwere Wunde zugefügt: das heliozentrische Weltbild und die Idee der sich im Laufe von Generationen verändernden Arten. Kopernikus – so Freud – habe den Menschen gezeigt, dass sie nicht im Zentrum der Welt stehen, und Darwin habe ihnen verboten, sich als Gipfel des Tierreichs – als Krone der Schöpfung – anzusehen. Zu diesen beiden Kränkungen käme nun eine dritte hinzu: Freud machte als Vater der Psychoanalyse deutlich, dass die Menschen nicht einmal Herr im eigenen Haus seien. Ihr bewusst planendes Denken entspringt verborgenen Quellen. Und was aus diesem Dunkel strömt, entscheidet darüber, wie wir uns verhalten und wie wir handeln.

Der Abtritt der Welt

Ich will nicht danach fragen, wieso ein Arzt stolz darauf ist, keine Gesundung, sondern eine Kränkung seiner Patienten herbeigeführt zu haben. Sondern ich will prüfen, was von Freuds Sicht der Dinge zu halten ist. Denn Freuds drei Kränkungen werden häufig zitiert, so dass der Eindruck entsteht, sie wären berechtigt und würden die historische Wirklichkeit wiedergeben.

Tatsächlich könnte nichts weiter von der Wahrheit entfernt sein, denn was Freud über Kopernikus und Co. behauptet. Seine Aussagen sind derart irreführend, dass ein Nachdenken darüber lohnt, warum die Intellektuellen heute noch – trotz aller Aufklärung – nicht nur gerne und fest an diese Kränkungen glauben , sondern einige Freud sogar übertreffen wollen (siehe zum Beispiel die FAZ vom 21. Januar 2017, Seite 20). Sie führen eine vierte und fünfte Kränkung an, die der Mensch durch die Wissenschaft erfahren haben soll, etwa die digitale Kränkung – der Mensch könne die selbst erschaffene Computertechnologie und künstliche Intelligenz nicht beherrschen. Wie konnte Freud die Menschen mit seiner Trias so sehr in die Irre führen?

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Es reicht schon der Blick auf das heliozentrische Weltbild: Wie Wissenschaftshistoriker schon länger publiziert haben, stellte die zentrale Position, die die Erde vor Kopernikus einnahm, keine Auszeichnung, sondern eine „Demütigung des Menschen“ dar, wie der Philosoph Rémi Brague es nennt. Wie hätte das Mittelalter sie auch sonst akzeptiert? Zu jener Zeit galt Demut als gesellschaftliches Primat, und der Platz des Menschen konnte nur die tiefste Stelle sein. Zudem: Der Himmel der kugelförmigen Welt ist oben; die Erde, auf der die Menschen leben, ist unten. Sie ist der „Abtritt“, wie es Immanuel Kant bezeichnete.

Was Freud schreibt, ist somit das Gegenteil der Wahrheit. Die zentrale Stelle der Erde war nie ein Ehrenplatz. Im Bereich der Astronomie stellte das Zentrum den allerbescheidensten Platz dar, wie sogar Galileo Galilei einräumte, als er in seinen Dialogen den klugen Salviati sagen lässt: „Was die Erde betrifft, so versuchen wir, sie zu veredeln, indem wir sie zurück in den Himmel setzen.“ Mit anderen Worten, als Kopernikus die Erde aus der Mitte nahm, brachte er sie – und damit uns – näher zu den Göttern. Und so wurde sein Tun auch von den Zeitgenossen verstanden.

Die Kränkungen sind irreführend

Was Darwins Idee der Evolution angeht, so lässt sie den Menschen dort, wo er war, nämlich an der Spitze der Entwicklung. Nur dass er diese Position nicht mehr einem Gott verdankt, sondern sich selbst. Es mag nicht nach jedermanns Geschmack sein, von „Affen“ abzustammen, aber wichtiger als das: Im Vergleich mit anderen Primaten sieht man, was an uns das Besondere ist: Menschen zeichnen sich dadurch aus, dass sie der Biologie entwachsen sind. Sie versorgen die Alten, Kranken und Schwachen, statt sie der natürlichen Selektion zu überlassen.

Damit kommen wir zu Freud selbst und dem Unbewussten. Was diese Sphäre des Geistigen angeht, so hatten sich die Menschen seit mindestens einem Jahrhundert mit ihr angefreundet. Sie gab ihnen Hoffnung, verstehen und nachvollziehen zu können, wie es mit dem Gewebe unter der Schädeldecke gelingen kann, über die Erfahrungen hinauszugehen, die wir mit den Sinnen erfassen und mit denen wir Wissenschaft treiben. Zu den Besonderheiten des menschlichen Lebens gehört seit Tausenden von Jahren die „Vielfalt religiöser Erfahrung“, wie sie der amerikanische Philosoph William James 1902 beschrieben hat. Denn auch ohne Wissenschaft wissen wir, dass „etwas Höheres existiert“, wie James es ausdrückt. Er nimmt an, dass das MEHR – so seine Schreibweise –, mit dem sich Menschen in der religiösen Erfahrung verbunden fühlen, Folgendes ist: „die unterbewusste Fortsetzung unseres bewussten Lebens.“ James ist überzeugt, „dass die Welt unseres gegenwärtigen Bewusstseins nur eine von vielen Welten ist, die es gibt, und dass diese anderen Welten Erfahrungen enthalten müssen, die auch für unser Dasein eine Bedeutung haben.“

Anders ausgedrückt, der Mensch, der stur Herr in seinem Haus sein will, übersieht, was ihn und uns alle geprägt hat. Weder erfährt er, woher wir kommen, noch, wo unsere Ideen ihren Weg in das Bewusstsein beginnen. Sie können doch nicht von außen kommen – dann wären wir tatsächlich nicht Herr im Haus und einer unheimlichen Macht ausgeliefert. Unsere Ideen können nur von innen kommen. Und das heißt, sie gehören uns, und sie stecken in der Schatzkammer des Wissens, die wir alle als das Unbewusste mit uns führen. Wir wollen Zugang zu ihr bekommen, und wissen jetzt, dass dies geht. Das ist unser Glück – und keine Kränkung. Freuds „Schwierigkeit mit der Psychoanalyse“ führt die Menschen in die Irre, und im Gegensatz zu seinen Theorien kränken seine Sätze wirklich einige von ihnen. Warum nur finden die Intellektuellen der Gegenwart so viel Gefallen daran?

© wissenschaft.de – Ernst Peter Fischer
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