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Wann Unordnung eine Tugend ist

Gesellschaft|Psychologie

Wann Unordnung eine Tugend ist
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Schlecht für Routinetätigkeiten, gut für Kreativität: ein bisschen Chaos auf dem Schreibtisch (Thinkstock)
Großraumbüro, Dienstagnachmittag. Der Kollege an der Stirnseite wird zum wiederholten Mal vom Chef aufgefordert, endlich einmal Ordnung auf seinem Schreibtisch zu schaffen – bei dem Chaos könne man ja gar nicht vernünftig arbeiten. Als vorbildlich bezeichnet der Chef dagegen den Schreibtisch einer Kollegin, auf dem außer der Computertastatur überhaupt nichts abgelegt ist. Kollege eins ist damit allerdings überhaupt nicht einverstanden: Er ist davon überzeugt, dass er nur dann richtig arbeiten kann, wenn er seine Papierberge und alten Kaffeetassen vor sich hat. Doch stimmt das? US-Psychologen haben das Phänomen jetzt untersucht. Ihre Antwort: Jein. Beide Varianten haben ihre Nach- aber auch ihre Vorteile – es kommt ganz darauf an, welche Art von Arbeit man leisten soll.

Der Geist beeinflusst die Umgebung – so weit, so klar. Wenn der Kollege etwa von Natur aus oder auch durch Erziehung keinen Sinn für Ordnung hat, wird er selbige auch nicht zu einem Bestandteil seines direkten Umfeldes machen. Seit einiger Zeit beobachten Psychologen aber, dass umgekehrt auch die Umgebung den Geist beeinflussen kann: Wer von Chaos umgeben ist, verhält sich anders als jemand in einem sehr ordentlichen Raum. Bisher galt dabei die Devise: Ordnung ist gut, denn sie lässt Leute gute Dinge tun, wie ihren Müll aufheben, Großzügigkeit zeigen, Verbrechen vermeiden, moralisch korrekte Entscheidungen treffen und so weiter. Unordnung dagegen ist schlecht: Sie verstärkt Vorurteile, macht einen unmoralisch und aggressiv und lässt soziale Regeln und Normen unwichtig erscheinen.

Zweiteilung viel zu simpel

Diese Schwarzweißmalerei war Kathleen Vohs von der University of Minnesota und ihre Kollegen jedoch zu eindimensional. Sie hatten nämlich eine interessante These: Da es sowohl in der Natur als auch in der menschlichen Kultur seit Anbeginn der Zeit Ordnung und Unordnung gibt – könnte es nicht sein, dass beide ihren Sinn haben? Etwa, indem sie einfach verschiedene psychologische Konzepte aktivieren und damit je nach Situation auch zu unterschiedlichen Ergebnissen führen? Um das zu testen, entwarfen sie drei Experimente, bei denen Probanden jeweils in einem unordentlichen Büroraum und einem sehr aufgeräumten getestet wurden.

Test eins beschäftigte 34 holländische Studenten, die in ihren jeweiligen Büros – ordentlich oder unordentlich – zehn Minuten lang getürkte Fragebögen ausfüllen sollten. Anschließend wurden die Teilnehmer informiert, dass die Universität eine Wohltätigkeitsorganisation unterstützt, die Spielzeug und Bücher für bedürftige Kinder anschafft, und gefragt, ob und wie viel sie dafür spenden würden. Am Ende verabschiedeten sich die Forscher von den Probanden und ließen sie an zwei Körben mit Snacks vorbeigehen – einem mit Äpfeln und einem mit Schokoriegeln.

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Ergebnis dieses Tests: Von den Studenten, die ihren Bogen in dem ordentlichen Raum ausgefüllt hatten, spendeten 82 Prozent etwas für die Kinder – aus der unordentlichen Gruppe waren es nur 47 Prozent. Außerdem war der Betrag im Schnitt in der Ordnungsgruppe mehr als doppelt so hoch. Und schlussendlich entschieden sich in dieser Gruppe über zwei Drittel der Probanden für den gesunden Snack – in der Chaos-Gruppe war es nur ein Fünftel. Schlussfolgerung des Teams: Ordnung fördert eindeutig solche Eigenschaften, die mit Tradition, Konvention und einer eher konservativen Lebenseinstellung in Verbindung gebracht werden. Großzügigkeit, Uneigennützigkeit und auch ein gesunder Lebensstil gehören dazu, wie bereits frühere Studien gezeigt hatten.

Gibt es auch positive Auswirkungen, wenn man im Chaos lebt?

Damit war aber die Frage noch nicht beantwortet, ob Unordnung nicht manchmal auch positive Auswirkungen haben kann – schließlich kam die Chaos-Gruppe im ersten Test nicht besonders gut weg. Daher konzentrierten sich die Forscher in Test zwei auf eine Eigenschaft, die durchaus mit Unordnung, dem Brechen von Regeln und damit dem Denken über den Tellerrand in Verbindung gebracht wird: die Kreativität, schließlich heißt es nicht umsonst „kreatives Chaos“. In diesem Teil der Studie sollten 48 amerikanische Studenten einer Firma helfen, neue Einsatz- und Vermarktungsmöglichkeiten für Tischtennisbälle zu finden. Wieder saß die Hälfte ein einem ordentlichen und die andere in einem unordentlichen Büro.

Alle Vorschläge wurden von einem unabhängigen Team gelesen und mit einem, zwei oder drei Kreativitätspunkten bewertet, wobei drei Punkte für sehr kreative Ideen vergeben wurden. Das Ergebnis: Sowohl die Durchschnittspunktzahl der einzelnen Studenten als auch die Summe aller Kreativitätspunkte waren in der Chaos-Gruppe höher als in der aus dem ordentlichen Büro. Zudem fanden die Probanden an den unordentlichen Schreibtischen häufiger Lösungen, die mit der Höchstpunktzahl ausgezeichnet wurden. Auch hier konnten die Forscher also ein klares Fazit ziehen: Schon ein derart kleiner Faktor wie ein unordentlicher Schreibtisch kann offensichtlich die Kreativität fördern, denn er hilft, ausgetretene Pfade zu verlassen und gewohnte Regeln hinter sich zu lassen.

Ein detaillierteres Bild

In Test drei prüften die Psychologen zu guter Letzt noch, ob der Zusammenhang Ordnung gleich konservativ und Unordnung gleich innovativ auch dann gilt, wenn es nicht um positiv oder negativ belegte Eigenschaften geht. Auch das bestätigte sich. Zusammenfassend könne man also sagen, dass die Einteilung in Gut und Böse tatsächlich zu kurz greift – der Effekt von Ordnung respektive Unordnung auf das Gehirn sei sehr viel breiter und nuancierter als bisher gedacht, resümiert das Team. Unordentliche Umgebungen scheinen einen dazu zu inspirieren, sich von Traditionen frei zu machen und damit frische Impulse zu entwickeln. Ein ordentliches Umfeld ermuntern dagegen dazu, Konventionen einzuhalten und die sichere Option zu wählen. In beiden Fällen kann dieses Verhalten je nach Kontext gute, schlechte oder neutrale Auswirkungen haben, betonen die Forscher.

Sie merken außerdem noch an, dass viele kreative Menschen, unter anderem einige Nobelpreisträger, unordentliche Umgebungen bevorzugen oder sogar kultivieren. Einer davon sei Albert Einstein gewesen, dem angeblich angemerkt haben soll: „Wenn ein unordentlicher Schreibtisch ein Anzeichen für einen unordentlichen Geist ist, wofür ist dann ein leerer Schreibtisch ein Anzeichen?“

Quelle:

© wissenschaft.de – Ilka Lehnen-Beyel
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