In der modernen Psychologie gilt Neurotizismus als eines der fünf Haupttendenzen der Persönlichkeit. Menschen, die als neurotisch gelten, besitzen charakteristische Eigenschaften, deren Ausprägung sich durch bestimmte Tests ermitteln lassen. Vereinfacht ausgedrückt neigen sie zu negativen Gedanken und Gefühlen vieler Art. Sie bekommen dadurch oft Schwierigkeiten mit dem Leben und leiden überdurchschnittlich häufig an psychischen Störungen. Bisher galt als Ursache für Neurotizismus eine übermäßige Empfindlichkeit der Betroffenen gegenüber möglichen Bedrohungen. Diese Annahme basiert darauf, dass angstlösende Medikamente vielen Betroffenen helfen können.
Ungereimtheiten im bisherigen Erklärungsansatz
Doch den Forschern um Adam Perkins vom King’s College London zufolge weist dieser traditionelle Erklärungsansatz einige Ungereimtheiten auf, da er nicht das volle Spektrum des Neurotizismus erfasst. „Es erscheint problematisch, Neurotizismus als die Folge einer verstärkten Bedrohungswahrnehmung zu erklären, da sich Betroffene oft auch in Situationen unglücklich fühlen, die mit Bedrohung überhaupt nichts zu tun haben“, sagt Perkins. „Die zweite Ungereimtheit ist, dass Neurotizismus oft mit Kreativität verknüpft ist. Warum sollten denn ausgerechnet Menschen mit einer übermäßigen Bedrohungswahrnehmung besonders viele ungewöhnliche Ideen entwickeln?“
Perkins hatte sein Aha-Erlebnis als Zuhörer eines Vortrags des späteren Co-Autors Jonathan Smallwood von der University of York, einem führenden Experten im Bereich der neuronalen Grundlagen des Tagträumens. Smallwood beschrieb Untersuchungsergebnisse von Probanden, die sich in Ruhe in einem Magnetresonanz-Tomografen (MRT) befanden. Ihm zufolge zeigte sich bei ihnen verstärkte Hirnaktivität im sogenannten medialen präfrontalen Kortex immer dann, wenn sie spontan negative Gedanken bekamen – so, wie es für Neurotizismus typisch ist. So kam Perkins auf die Idee, dass individuelle Unterschiede in der Aktivität dieser Hirnregion, für die Neigung zu Neurotizismus verantwortlich sein könnten.
Grübel-Hypothese
Ihm und seinen Kollegen zufolge erscheint es plausibel, dass Menschen zu negativen Gedanken neigen, die einen besonders aktiven medialen präfrontalen Kortex in Kombination mit einer Neigung zu Panik aufweisen. Die finsteren Gedanken ähneln zwar denen, die bei Bedrohungen auftreten, sind aber von konkreten Gefahren losgelöst. „Dies könnte bedeuten, dass aus bestimmten nervlichen Gründen neurotische Personen eine sehr aktive Vorstellungskraft besitzen, die allerdings als Bedrohungs-Generator wirkt“, so Perkins. Den Forschern zufolge stehe das neue Erklärungsmodell auch im Einklang mit den typisch grüblerischen Denkmustern bei Menschen mit Depressionen.
Vor allem erklärt die Grübel-Hypothese nun den Zusammenhang zwischen Neurotizismus und Kreativität. Er entsteht demnach aus der Neigung der neurotischen Persönlichkeiten, länger über Probleme nachzusinnen als der Durchschnittsmensch, sagen die Forscher. Als Beispiel führen sie einen bekannten Neurotiker an, der viele neuartige Denkansätze hervorbrachte: den Naturforscher Isaac Newton. „Ich halte mir ein Thema immer wieder vor, warte, bis es mir langsam dämmert und ich schließlich das klare Licht sehe“, sagte Newton einmal über sein Problemlösungsverfahren.
„Wir sind noch weit von einer vollständigen Erklärung der Ursachen des Neurotizismus entfernt und wir erheben keinen Anspruch auf definitive Antworten. Wir hoffen aber, dass unsere neue Theorie Betroffenen helfen kann, Sinn in ihre Erfahrungswelt zu bringen. Und wir wollen zudem betonen, dass Neurotizismus zwar unangenehm ist, aber auch kreative Vorteile mit sich bringen kann“, so Perkins.