Was hatte nun der arme Hippasos Schlimmes angestellt? Er hatte eine Zahl gefunden, die nicht als Bruch aus natürlichen Zahlen darstellbar ist ? eine so genannte irrationale Zahl, die stattdessen unendlich viele Nachkommastellen hat, die sich nicht wiederholen. Dummerweise hatte er diese Zahl Phi ausgerechnet im Verhältnis von Diagonalen und Seitenlängen des Pentagramms gefunden, des fünfzackigen Sterns, der den Pythagoräern als ihr Erkennungszeichen heilig war. Damit hatte Hippasos wohl den Bogen überspannt.
Den Goldenen Schnitt Phi findet man in der Natur auf Schritt und Tritt. Beispielsweise stehen die Abstände der Knotenpunkte an den Stängeln von Pflanzen in diesem Verhältnis zueinander. Die logarithmische Spirale, die mit der Zahl Phi konstruiert wird, findet man im schneckenartigen Gehäuse des Tintenfischs Nautilus, aber auch in der Form von Galaxien oder Hurrikans.
Viele Künstler und Architekten haben den Golden Schnitt in ihren Gemälden und Bauwerken berücksichtigt. Leonardo da Vinci soll die Zahl Phi in den Zügen seiner Mona Lisa verewigt haben. Laut Livio gibt es dafür im Gemälde zwar keinen über alle Zweifel erhabenen Beweis, aber die Tatsache, dass da Vinci mit Luca Pacioli befreundet war, ist ein weiteres Indiz dafür. Pacioli hat im Jahr 1509 eine dreibändige Abhandlung über den Goldenen Schnitt veröffentlicht.
Um 1860 herum versuchte der deutsche Psychologe Gustav Theodor Fechner zu zeigen, dass Menschen den Goldenen Schnitt als besonders ästhetisch empfinden. Er legte Versuchspersonen Rechtecke mit verschiedenen Seitenverhältnissen vor und fand, dass dasjenige Rechteck mit einem Seitenverhältnis von 1,62 von den meisten Teilnehmern als besonders ästhetisch empfunden wurde. Doch dieses Ergebnis ist bis heute umstritten.
Noch einen Schritt weiter ging 1994 Mark Lowey vom University College Hospital (UCL) in London. Er vermaß die Gesichter von Models und kam zu dem Schluss, dass deren Proportionen dem Goldenen Schnitt im Durchschnitt näher kommen als die des Rests der Bevölkerung. Doch Alfred Linney, ebenfalls vom UCL, präzisierte diese Messungen mittels Lasertechnik und fand keine Unterschiede zwischen Models und Durchschnittsbevölkerung.
Livio weist zudem darauf hin, dass es in der Literatur nur so von falschen Behauptungen über das Vorkommen des Goldenen Schnitts in Kunstwerken wimmelt. Sein abschließender Kommentar: „Trotz der faszinierenden mathematischen Eigenschaften des Goldenen Schnitts und seiner Neigung, in der Natur überall da aufzutauchen, wo man ihn am wenigsten erwartet, sollten wir damit aufhören, ihn als universellen Standard für Schönheit anzusehen, weder im menschlichen Gesicht noch in der Kunst.“
Livio’s Buch trägt den Titel „The golden ratio: the story of phi, the world’s most astonishing number“ und ist erschienen bei Broadway Books (2002).