Beim Schwerkraftverhalten der Dunklen Materie gibt es Widersprüche. Astronomen mussten zusätzlich zur Schwerkraft die Existenz einer weiteren Kraft annehmen, um die starke Anziehung zu erklären, mit der die Dunkle Materie sich selbst in manchen Galaxien zusammenzieht. Doch damit haben sie sich nur ein neues Problem eingehandelt, denn in großen Galaxienhaufen fehlt diese Kraft.
Diese Probleme können Silk und seine Kollegen mit Hilfe der Stringtheorie auf einen Schlag lösen. Die Stringtheorie ist aus dem Versuch entstanden, die Allgemeine Relativitätstheorie mit den Quantentheorien der Teilchenphysik unter einen Hut zu bringen. Die Grundbausteine der Stringtheorie sind winzige Fäden ? die „Strings“. Diese Strings bilden die herkömmlichen physikalischen Elementarteilchen, indem sie in unterschiedlichen Zuständen vibrieren. Jedem dieser Zustände entspricht ein bestimmtes Teilchen.
Die Stringtheorie ist nur dann mathematisch widerspruchsfrei zu formulieren, wenn man die Existenz weiterer Raumdimensionen annimmt. Es gibt zwei konkurrierende Erklärungen dafür, warum unser Universum augenscheinlich nur dreidimensional ist. Die eine nimmt an, dass die zusätzlichen Raumdimensionen genauso ausgedehnt sind wie die drei sichtbaren Dimensionen. Wir nehmen sie deshalb nicht wahr, weil alle physikalischen Wechselwirkungen einschließlich des Lichts ? aber außer der Schwerkraft ? unseren dreidimensionalen Raum nicht verlassen können und auch nicht von außen in ihn eindringen können.
Die andere Erklärung geht davon aus, dass die zusätzlichen Dimensionen auf kleinstem Raum „eingerollt“ sind. Aus dem gleichen Grund, weswegen ein Gartenschlauch aus weiter Entfernung nur wie eine eindimensionale Linie in der Landschaft aussieht, sind diese eingerollten Dimensionen für uns nicht wahrnehmbar. Aber sie verändern Newtons Gravitationsgesetz unterhalb von Entfernungen, die dem Einrollradius entsprechen. Wie groß dieser Einrollradius ist und ob alle zusätzlichen Dimensionen den gleichen Einrollradius haben, ist nicht geklärt. Bisherige Experimente haben bis hinab zu einem Abstand von einem Hundertstel Millimeter keine Abweichungen von Newtons Gravitationsgesetz gefunden.
Silk und seine Kollegen erklären das seltsame Gravitationsverhalten der Dunklen Materie nun folgendermaßen: Es ist bekannt, dass Materieteilchen in großen Galaxien im Mittel höhere Geschwindigkeiten haben als in kleineren. Das gilt auch für die Teilchen der Dunklen Materie. Wegen der größeren Durchschnittsgeschwindigkeit verbringen Materieteilchen in großen Galaxien weniger Zeit dicht benachbart zusammen als die in kleinen Galaxien. Somit sinkt in den kleinen Galaxien der Abstand zwischen zwei Teilchen öfter unter den Einrollradius der Stringtheorie. Unterhalb dieses Abstandes ist die Gravitation viel stärker als es Newtons Gesetze vorhersagen. Das ist der Grund, warum sich die Dunkle Materie in kleinen Galaxien ungewöhnlich stark zusammenballt.
Die Physiker kommen also ohne die Annahme einer mysteriösen neuen Kraft aus. Zusätzlich machen sie einige konkrete Vorhersagen, über deren Richtigkeit zukünftige Beobachtungen oder Experimente entscheiden können: Die Anzahl der eingerollten Raumdimensionen ist drei. Der Einrollradius ist ein Millionstel Millimeter. Und die Masse der Teilchen, aus denen die Dunkle Materie besteht, beträgt etwa 0,3 Billiardstel der Masse eines Protons.
Originalarbeit: Bo Qin et. al., arXiv.org, astro-ph/0508572