Schon seit über 20 Jahren beschäftigt sich Bo Persson mit dem Phänomen der Reibung. Gemeinsam mit seinen Kollegen am Forschungszentrum Jülich hat der gebürtige Schwede nun neue geschwindigkeits- und temperaturabhängige Eigenschaften von Gummireibung auf Asphalt nachgewiesen. Die Beobachtung stützt Perssons Annahme, dass ein wichtiger Aspekt der Reibung darin besteht, dass Ketten aus Gummimolekülen wiederholt auf der Straße kleben bleiben, sich ausdehnen und sich dann wieder vom Asphalt lösen. Die Ergebnisse hat das Team im Journal of Chemical Physics veröffentlicht.
„Gummireibung ist ein äußerst interessantes Forschungsthema und von besonderer Bedeutung für die Praxis, zum Beispiel bei der Herstellung von Reifen“, sagt Persson. Ein besseres Verständnis dieses auch Friktion genannten Phänomens könne Reifenherstellern dabei helfen, Material und Profile ihrer Produkte noch effizienter auszuwählen. Gäbe es ein mathematisches Modell, mit dessen Hilfe sich das Verhalten des Materials verlässlich vorhersagen lässt, könnten zeitraubende Reifentests in Zukunft vielleicht der Vergangenheit angehören.
Verformt und gezogen
Bislang stützt sich die Industrie bei der Abschätzung des zu erwartenden Reibungseffekts lediglich auf eine einzige Eigenschaft von Gummi: die Viskoelastizität. Sie beschreibt, wie sich Gummi verformt, wenn es gegen harten Asphalt gedrückt wird. Tatsächlich ist die Viskoelastizität aus einem atomaren Blickwinkel betrachtet eine der Hauptursachen für die Reibung zwischen Gummi und Asphalt. Denn dabei wird eine erhebliche Menge an Energie umgesetzt, was zur Verlangsamung des Autos führt. Bo Persson aber glaubt: Das wirkliche Verhalten der Reifen kann damit noch nicht genau genug vorhergesagt werden. In der Tat gibt es noch einen weiteren komplizierten Effekt, der seinen Teil zur Reibung beiträgt. Fachleute sprechen vom „shearing“ – eine Bewegung, bei der das Gummi parallel zur Straßenoberfläche über den Asphalt gezogen wird. Doch woher kommt sie?
Persson vermutet, dass die Bewegung dadurch entstehen könnte, dass sich die Gummimoleküle für einen kurzen Moment mit dem Asphalt verbinden, quasi an ihm kleben bleiben und auf diese Weise zur Seite gezogen werden. Er hat im Laufe der Jahre Formeln für die Gummireibung entwickelt, die sowohl den Beitrag von Viskoelastizität als auch „shearing“ beschreiben. Ob seine Berechnungen der Realität entsprechen, testet Persson seit Anfang des Jahres. In seiner aktuellen Untersuchung hat er den „shearing“-Teil seiner Theorie auf die Probe gestellt.
Bei da Vinci abgeguckt
Dafür hat das Wissenschaftlerteam drei verschiedene Gummimischungen bei unterschiedlichen Temperaturen auf drei verschiedenen Oberflächen getestet. Den Aufbau für das Experiment haben die Forscher bei dem Universalgelehrten Leonardo da Vinci abgeguckt, der schon im 15. Jahrhundert erste einfache quantitative Studien zum Reibungsphänomen durchführte. Dabei maß das Team die Reibung nur bei geringen Geschwindigkeiten von bis zu 1 Millimeter pro Sekunde, um Reibungswärme zu vermeiden, die die Viskoelastizität des Gummis beeinflusst. „Gummireibung ist sehr komplex. Man sollte deshalb neue Theorien immer erst in der einfachsten Situation testen“, begründet Persson.
Das Ergebnis offenbart: Perssons Theorie zum „shearing“-Effekt durch Klebenbleiben von Gummimolekülketten scheint zu den experimentellen Beobachtungen zu passen. Die Forscher fanden heraus, dass die Reibung bei niedrigeren Temperaturen sowie bei höheren Geschwindigkeiten nachlässt. Die mögliche Erklärung: Bei niedrigeren Temperaturen können sich die Gummimoleküle nicht so schnell verbinden und bei hoher Geschwindigkeit haben sie keine Chance, kleben zu bleiben – weil das Gummi sich zu schnell bewegt.
Lehren für die Praxis?
Außerdem entdeckten die Forscher, dass sich Temperatur und Geschwindigkeit auf den „shearing“-Effekt ganz anders auswirken als auf jenen durch die Viskoelastizität des Gummis. Dies zeige, dass es für Reifenhersteller nicht unbedingt sinnvoll sein könnte, sich für die Vorhersage von Reibungsverhalten nur auf den Faktor Viskoelastizität zu verlassen, schreibt das Team. Nichtsdestotrotz scheinen ihre Ergebnisse für die Praxis eher von mäßiger Bedeutung zu sein – zumindest bis jetzt. Denn Perssons Resultate beschränken sich auf saubere, trockene Oberflächen. Schon wenn die Straße nur ein wenig nass ist, verbinden sich die Gummimoleküle nicht mehr mit dem Asphalt. In so einem Fall, räumt Persson ein, reiche es unter Umständen wohl doch aus, nur den Faktor Viskoelastizität für die Berechnung der Reibungskraft zu betrachten.