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Im Land der Rhöner

Reizvolle Regionen

Im Land der Rhöner
Foto: Rainer Kwiotek

Wo Thüringen, Bayern und Hessen aufeinandertreffen, erhebt sich ein Meer sanfter Berge: die Rhön. Einst durch den Eisernen Vorhang getrennt, lädt die Region heute Naturfreunde, Abenteurer und Tierliebhaber gleichermaßen ein. Besuch in einem unterschätzten Mittelgebirge.

Text: Rike Uhlenkamp / Fotos: Rainer Kwiotek

Dort über uns fliegt noch einer“, rufe ich Harald Jörges zu. Der Pilot sitzt hinter mir. Den Kopf weit in den Nacken gelegt, starre ich in den Himmel. Drei Bussarde kreisen über uns, schrauben sich Runde für Runde in die Höhe – immer weiter Richtung Wolkendecke. „Wahnsinn“, platzt es aus mir heraus. Vergessen ist das mulmige Gefühl, mit dem ich vor wenigen Minuten in das Segelflugzeug gestiegen bin, vergessen die Furcht, sich ohne Motor, nur von der Energie der Sonne getragen, in die Luft zu begeben. Die Natur lässt uns nicht im Stich – nicht den Piloten Jörges und mich, nicht die Greifvögel.
„Die wissen, wo die beste Thermik ist.“ Es sei ein idealer Nachmittag zum Fliegen, versicherte Jörges mir unten auf dem Flugplatz der Wasserkuppe, dem höchsten Berg Hessens, etwa 30 Kilometer östlich von Fulda. Die noch starke Herbstsonne trifft auf den abgekühlten Boden. „Die Luft heizt sich auf und die warmen Moleküle steigen nach oben – und wir mit ihnen“, erklärt Jörges. Er steuert das Segelflugzeug unter eine der weißen Schäfchenwolken, die den blauen Himmel übersäen und ein deutliches Zeichen für die Aufwinde sind. „Gleich zieht sie uns hoch!“

Freiheit über den Wolken

Während wir immer höher steigen, schaue ich rechts und links nach unten. Aus der Luft hat man den besten Blick auf die Rhön. Auf etwa 1500 Quadratkilometern erstreckt sich das Mittelgebirge über die entlegenen Zipfel dreier Bundesländer: den äußersten Westen Thüringens, den Norden Bayerns und den Osten Hessens. Vor der Wende fiel die Rhön im Westen in das Zonenrandgebiet, lag im Osten in der Sperrzone. Diese Randlage ermöglichte es der Natur, sich an vielen Stellen ungestört auszubreiten. Doch das Mittelgebirge, das mit dem Ende der DDR plötzlich in das Zentrum Deutschlands rutschte und seit 1991 von der Unesco zum Biosphärenreservat ernannt wurde, blieb trotzdem lange eher unbeachtet.

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Bei Pilot Harald Jörges in sicheren Händen Foto: R. Kwiotek

Seit über 30 Jahren fliegt der 63-jährige Harald Jörges hauptberuflich Motor- und Segelflugzeuge, vor 18 Jahren übernahm er die Leitung der Segelflug‧schule. 1924 wurde sie gegründet und ist damit die weltweit älteste. Denn hier im Herzen der Rhön wurde das Segelfliegen geboren. Das Hochplateau und die sanften Hänge der 950 Meter hohen Wasserkuppe wurden wie viele Gebiete der Rhön im Mittelalter gerodet und als Weidefläche genutzt. Freie Felder und Sicht für Menschen, die sich Berghänge hinunterstürzen: Schon Anfang des 20. Jahrhunderts galt die Wasserkuppe als Mekka für Gleitsegler. Als die Alliierten nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland den Motorflug verboten, zog es Flugzeugkonstrukteure, ehemalige Kriegspiloten und Flugbegeisterte erneut auf den Berg. Sie schraubten an den Flugzeugen, bauten die Motoren aus, experimentierten mit Materialien, übten Starts und studierten die Thermik. „Das Fliegen ohne Motor hatte niemand verboten.“ Heute starten die Segelflieger von der Wasserkuppe etwa 15 000 Mal im Jahr. „Dort rechts ist die ehemalige Grenze.“ Jörges erinnert sich an die Zeit: „Es war ein beklemmendes Gefühl. Die Ortschaft da vorne war schon in der DDR.“ Die Grenze unten am Boden war hermetisch gesichert, doch in der Luft mussten sich die Piloten auskennen, um nicht versehentlich über den Eisernen Vorhang zu fliegen. Umso lieber denkt Jörges an die Zeit nach der Wende: An einem Sonntag im November boten er und seine Kollegen kostenlose Rundflüge „für die Neubürger“ an. „Es war ein regelrechter Boom. Sie wollten fliegen, endlich Freiheit erleben.“

Im hügeligen Reservat

Jörges und ich segeln über das Feuchtgebiet Schwarzes Moor, den Rhönwald, über das Basaltblockmeer des Scharfsteins – sie liegen in den Kernzonen des 2400 Quadratmeter großen Biosphärenreservats. Hier wird die Natur sich selbst überlassen. In den weitaus größeren Pflege- und Entwicklungszonen werden die für die Region prägende Landwirtschaft, Handwerk und der naturschonende Tourismus geschützt und gefördert.
Einer, der Besucher durch den thüringischen Teil des Biosphärenreservats führt, ist Rolf Orthey. Mit dem ausgebildeten Naturpädagogen laufen wir ein Teilstück des sogenannten Entdeckerpfades, eines 18 Kilometer langen Wanderwegs. Die Tour startet an der Erlebniswelt Rhönwald, einem interaktiven Besucherzentrum, für das Orthey arbeitet. Von dort wandern wir bergabwärts, seinen Erklärungen lauschend: „Die erste Besiedlung der Rhön gab es etwa 3000 Jahre vor unserer Zeitrechnung.“ Bandkeramiker lebten damals als Viehzüchter und Ackerbauern in dem Mittelgebirge. Auch in den folgenden Jahrhunderten besiedelten viele Volksgruppen das Gebiet, so wie zwischen 800 und 450 vor Christus die Kelten und um die Zeitenwende die Germanen. Der Name der Region geht auf sie zurück: „Hraun ist die germanische Bezeichnung für steinig, felsiger Grund“, erklärt der 61-jährige Orthey.

Nach etwa zweieinhalb Stunden Wanderung kommen wir auf einem Parkplatz in Unterweid an. Mit dem Auto des Naturführers fahren wir zum Start der Tour zurück. Die Hauptattraktion der Erlebniswelt Rhönwald ist das Ausstellungszentrum Arche Rhön. „Es ist an die biblische Geschichte angelehnt. Wie Noah haben wir die Pflanzen und Tiere der Rhön mit in unser Schiff genommen, um über sie zu informieren, sie zu schützen.“

Der Kampf um das Maskottchen

Ein großer Teil des Museums ist dabei dem Rhönschaf gewidmet. Schwarzer, hornloser Kopf, weißer Körper, lange Beine – sein spezielles Aussehen hat das Tier zum Aushängeschild der Region gemacht. Doch das Schaf ziert nicht nur die Cover zahlreicher Reiseführer: Die Nutztierrasse, eine der ältesten Deutschlands, pflegt die mageren Hänge und Wiesen des Mittelgebirges, verhindert, dass die Landschaft verbuscht. „Die Schafe sind unsere Gebirgsrasenmäher“, so Orthey. Weideten einst mehrere Hunderttausend der Tiere auf den Rhönwiesen, waren es Mitte der 70er Jahre nur noch 300. Die Fleisch- und Wollimporte aus dem Ausland wurden immer billiger. Die Wolle der Rhönschafe ist dick und grob; sie eignet sich schlechter als andere für die Herstellung von Kleidung. Außerdem gibt die Rasse weniger Fleisch als andere. Um die Nutztierrasse zu retten und mit ihnen auch die Kulturlandschaft, startete der BUND 1985 das Rhönschaf-Projekt und gewann Landwirte dafür, eine kleine Herde zu übernehmen. Aber auch die Grenze stellte für das gesunde Überleben des Rhönschafs ein Problem dar. Hüben wie drüben gingen den Züchtern die Böcke aus, es drohte die Inzucht. „Nach der Wende sind wir sofort rüber, um unsere Böcke zu tauschen“, sagt der Schäfer Josef Kolb. Insgesamt ist die Zahl der Rhönschafe in der gesamten Rhön heute wieder auf mehrere Tausend Tiere angestiegen.

Im hessischen Teil der Rhön, etwa 30 Kilometer von Kolbs Stall entfernt, kramt Bettina Herbst in ihrem großen Einkaufskorb und fragt: „Welche Sternenbilder seht ihr?“ „Den großen Wagen“, schallt es aus der Gruppe zurück. Mit Anorak, Schal und von einigen Gläsern Apfelwein gewärmt stehen etwa 20 Menschen vor ihr. Alle blicken in den Nachthimmel. „Genau, den erkennt fast jeder, aber wusstet ihr, dass man an ihm auch die Himmelsrichtung bestimmen kann?“ Herbst zieht eine große Taschenlampe aus dem Korb und leuchtet auf die zwei Sterne, die die Rückwand des Wagens bilden. „Wenn ich den Abstand fünffach nach oben verlängere, lande ich beim Polarstern, der steht im Norden.“
Das wenig besiedelte Mittelgebirge ist einer der besten Plätze, um in Deutschland Sterne, Planeten und den Mond zu beobachten. Die Lichtverschmutzung, also das Aufhellen des Nachthimmels durch künstliches Licht, ist hier vergleichsweise gering. 2014 wurde das Biosphärenreservat Rhön deshalb von der Dark-Sky Association offiziell als Sternenpark anerkannt. „Doch, dass wir hier so toll Sterne beobachten können, ist eigentlich nur der positive Nebeneffekt“, sagt Herbst. Die dunkle Nacht ist wichtig für viele Tiere und Pflanzen. Einige Insekten bestäuben nachts, viele Zugvögel fliegen überwiegend in der Dunkelheit. „Schaltet man den Tieren in der Nacht das Licht an, ist das so, wie wenn es für uns mitten am Tag stockdunkel wird. Sie verlieren die Orientierung und können nicht mehr so leben, wie es ihrer Natur entspricht.“ In den Gemeinden im Rhöner Sternenpark, der sich über alle drei Bundesländer erstreckt, wurde die Außenbeleuchtung so verändert, dass das künstliche Licht nicht mehr in den Himmel strahlt. Einige Dörfer schalten nachts für einige Stunden das Licht komplett aus.
Die Segelflieger, die blökenden Rhönschafe, die Aussicht auf die Hügelwellen des Mittelgebirges und die Sternschnuppen, die an diesem Abend ab und an über das Firmament huschen – sie alle buhlen um die Aufmerksamkeit der Besucher für die Rhön. Mit Erfolg.

Der vollständige Text erschien in der Ausgabe natur 11/19, welche Sie hier bestellen können.

Tipps für die Rhön

Hoch hinaus!
Mitten im Biosphärenreservat, auf dem über 800 Meter hohen Berg Ellenbogen thront seit 2017 die Aussichtsplattform „Noahs Segel“. Von oben hat man einen Blick auf Thüringen, Bayern, Hessen, auf die gesamte Rhön. Über den Entdeckerpfad können Wanderer von der Arche Rhön bis zum Segel laufen. Und auch viele andere Wanderwege führen direkt an der auffälligen Stahl-Holz-Konstruktion vorbei. Der Eintritt kostet 2 €.

Die erfolgreiche Limo aus der Rhön
Vor 30 Jahren gelang dem Braumeister Dieter Leipold im beschaulichen Ostheim vor der Rhön der Durchbruch. Er schaffte es, Malzzucker in Gluconsäure zu verwandeln: Die Basis der Bionade. Hippe Großstädter entdeckten die Brause, die fast bankrotte Brauerei war gerettet. Mittlerweile gibt es zehn unterschiedliche Sorten. Bis heute ist das Unternehmen in der Region verwurzelt. Wenn möglich bezieht es die Zutaten regional. Es können Führungen durch die bayerische Fabrik und auf’s Holunderfeld gebucht werden.

Herzliche Herberge
Vor acht Jahren übernahmen Stefan Herzog und Bianca Larbig den Landgasthof zur Ulsterbrücke. Die Zimmer in dem Hotel am Ufer des gleichnamigen Flusses sind nichts Besonderes: rustikal, einfach und sauber. Doch die Herberge, im 300-Seelenort Günthers bei Tann gelegen, begeistert durch die Herzlichkeit des Betreiberpaares. In der familiären Atmosphäre fühlen wir uns sofort willkommen. Das Frühstücksbuffet und die Portionen, die abends im eigenen Restaurants serviert werden, sind üppig und lecker.

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