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Abgenagte Galaxien

Allgemein

Abgenagte Galaxien
Manche Kugelsternhaufen sind die Relikte von Zwerggalaxien, die durch Gezeitenkräfte malträtiert wurden.

Nicht jeder kugelsternhaufen ist schon immer einer gewesen. Einige Haufen sind in Wirklichkeit wohl die kläglichen Reste von Zwerggalaxien, die großen Elliptischen oder Spiralgalaxien so nahe gekommen waren, dass deren Gezeitenkräfte sie „abgenagt” haben: Alle äußeren Sterne wurden „abgebissen”, nur die Zentralregion blieb übrig.

Dafür spricht, dass manche Kugelsternhaufen sehr uneinheitlich sind: Ihre Sterne unterscheiden sich – im Gegensatz zu echten Kugelsternhaufen – beträchtlich im Alter und im Gehalt an schwereren Elementen. Omega Centauri, einer der prominentesten Haufen am Himmel, ist ein solcher Fall. Er steht 18 000 Lichtjahre entfernt im Sternbild Kentaur. Auch der Kugelsternhaufen G1 beim Andromedanebel scheint das Überbleibsel einer Zwerggalaxie zu sein.

Beobachtungen mit dem Hubble-Weltraumteleskop und Spektralanalysen mit dem 8,2-Meter-Teleskop Kueyen des Very Large Telescope der Europäischen Südsternwarte haben überraschenderweise ergeben, dass Omega Centauri aus zwei verschiedenen Sternpopulationen besteht – was in normalen Kugelsternhaufen nie der Fall ist. Für die gemittelten Gesamtspektren waren Beobachtungszeiten von über 200 Stunden nötig, denn die Sterne sind bis zu eine Million Mal lichtschwächer als solche, die sich gerade noch mit bloßem Augen erkennen lassen. Das bläulichere Viertel der Sterne besitzt einen größeren Gehalt an schwereren Elementen als das rötliche – normalerweise ist das Umgekehrte der Fall. Unter ihnen sind die heliumreichsten bekannten Sterne überhaupt, wie ein Forscherteam um Giampaolo Piotto von der Universität Padua entdeckte. Diese Sterne haben einen Helium-Gehalt von 39 Prozent, obwohl sie nur ein bis zwei Milliarden Jahre nach dem Urknall entstanden sind. Zum Vergleich: Die Milchstraße brauchte acht Milliarden Jahre, um ihre mittlere Helium-Häufigkeit von 24 Prozent, wie im Urgas nach dem Urknall üblich, auf heute 28 Prozent zu steigern. Vermutlich bildeten sich die heliumreichen bläulichen Sterne der zweiten Generation rasch aus dem restlichen Gas, das mit schwereren Elementen angereichert war – übrig geblieben von den Explosionen der kurzlebigen Sterne der ersten Generation. Piotto fand ähnlich heliumreiche Sterne allerdings auch in dem gewöhnlichen Kugelsternhaufen NGC 2808 im Sternbild Schiffskiel, 31 000 Lichtjahre entfernt.

Dass große Galaxien kleinere „auffressen”, ist nicht nur eine theoretische Schlussfolgerung, sondern lässt sich auch beobachten. So verspeist unsere Milchstraße gegenwärtig die Sagittarius-Zwerggalaxie, 52 000 Lichtjahre vom Galaktischen Zentrum entfernt im Sternbild Schützen. Ihre vier Kugelsternhaufen werden dabei mit einverleibt. Gut verdaute Reste vergangener Mahlzeiten haben Astronomen ebenfalls schon gefunden (bild der wissenschaft 5/2001, „Die kannibalische Milchstraße” ).

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Auch die Ultrakompakten Zwerge („UCD”s, ultracompact dwarfs) könnten die Kerne von Zwerggalaxien sein, die im Gravitationsfeld einer Riesengalaxie zerrissen wurden. Mit einem Durchmesser von ein paar Hundert Lichtjahren sind sie größer als die meisten Kugelsternhaufen. Vielleicht besitzen sie einen Halo aus Dunkler Materie oder ein zentrales massereiches Schwarzes Loch, dessen Schwerkraftwirkung zu einer Ausdehnung der gesamten Sternkonglomeration geführt hat.

Sogar ein neuer Typ von Sternhaufen ist wohl durch galaktischen Kannibalismus zu erklären: ausgedehnte Haufen, die mit einigen Hundert Lichtjahren Durchmesser größer als normale Kugelsternhaufen sind und nur ein Hundertstel von deren Dichte besitzen. Entdeckt wurden sie beim Andromedanebel, als im Jahr 2005 Astronomen um Avon Huxor von der University of Hertfordshire mit dem 2,5-Meter-Isaac-Newton-Teleskop auf La Palma und dem 3,6-Meter-Canada-France-Hawaii-Teleskop auf Hawaii unsere Nachbargalaxie inspizierten. Die Sternhaufen müssen sehr alt sein. Sie verteilen sich in einem kugelförmigen Halo um unsere Nachbargalaxie im Abstand von bis zu 200 000 Lichtjahren.

„Wie diese Objekte entstanden sind und warum es nicht ähnliche Haufen bei der Milchstraße gibt, ist ein Rätsel”, sagt Huxor. „ Möglicherweise wurden sie nicht beim Andromedanebel gebildet, sondern sind Teile von Zwerggalaxien, die im Schwerefeld der Galaxie auseinandergerissen wurden”, spekuliert Mike Irwin von der University of Cambridge. „Dann sollten sie besser ,kleinste Galaxien‘ genannt werden und nicht Sternhaufen”, ergänzt Huxors Kollege Nial Tanvir.

Galaktischer Kannibalismus könnte auch eine Erklärung für manche rötlichen, jüngeren Kugelsternhaufen sein (siehe Beitrag „ Methusalem im Universum”). Patrick Côté von der Rutgers University in Piscataway, New Jersey, zufolge wuchsen die Elliptischen Galaxien über viele Milliarden Jahre, indem sie eine große Zahl von benachbarten Zwerggalaxien verschlangen. Einige seien dabei als Kugelhaufen übrig geblieben.

William Harris von der McMaster University in Hamilton, Ontario, hat an diesem Modell allerdings seine Zweifel: Côtés Hypothese könne nicht erklären, warum Elliptische Riesengalaxien wie M 87 so viele Kugelsternhaufen mit schwereren Elementen besitzen. „Dafür gibt es nicht genug massearme Zwerggalaxien im Universum. Ich vermute, dass die meisten der rötlichen Haufen durch das Verschmelzen von Gaswolken im frühen Universum entstanden sind. Sicher spielen auch andere Prozesse eine Rolle – die Frage ist nur, welche.”

Côtés Modell ist überprüfbar: Es sagt eine noch stärkere Altersvariation der rötlichen Haufen voraus als die Hypothesen seiner Konkurrenten (siehe Tabelle „Das Rätsel der jüngeren Kugelsternhaufen”). Der entscheidende Test besteht also in präziseren Altersbestimmungen dieser Haufen. Das ist eine große technische Herausforderung, für die – zumindest hinsichtlich der ferneren, lichtschwächeren extragalaktischen Haufen – erst das James Webb Space Telescope die erforderliche Empfindlichkeit haben wird. Der Start dieses ambitionierten Hubble-Nachfolgers ist für das Jahr 2013 geplant.

Doch bis dahin gibt es noch viele andere Testmöglichkeiten für die Hypothesen. So arbeiten Jean Brodie und ihre Kollegen vom Lick Observatory zurzeit an einer systematischen Studie mit dem 10-Meter-Keck-Teleskop auf Hawaii, um die Spektren von Kugelsternhaufen bei Galaxien mit ganz unterschiedlichen Eigenschaften zu gewinnen. „Wir planen außerdem einen neuen Ansatz mit der Infrarotastronomie”, schreibt Brodie auf ihrer Homepage. „Die Spektroskopie ist das beste Werkzeug, um das Alter, die Häufigkeit der verschiedenen Elemente und die Bewegungen in Kugelsternhaufen exakt zu messen, aber es kostet viel Zeit. Kombiniert man Messungen im Nahen Infrarot mit den optischen Daten, gelingt die Bestimmung von Alter und chemischer Zusammensetzung sehr viel genauer und geht auch schneller. Außerdem werden wir herausfinden, ob es die Bimodalität auch bei leuchtschwachen Ellipsen gibt, und ob die jungen Sternhaufen in wechselwirkenden Galaxien Vorgänger von echten Kugelsternhaufen sind oder nicht.” Rüdiger Vaas ■

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