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Abschied vom Ohrensessel

Allgemein

Abschied vom Ohrensessel
Raumklima zwischen Meßgrößen und Empfindungen. Wissenschaftler haben das Wesen eines Gefühls ergründet. Wenn sich des Menschen Inneres in thermischem Einklang mit seiner Umgebung befindet, so meinen sie, stellt sich wahres Wohlbefinden ein: Behaglichkeit.

Die Farben in einem Thermogramm geben die Wärmeverteilung an der Oberfläche eines Kopfes in Schritten von 0,1 Grad Celsius an: Am kältesten (blau) sind der behaarte Hinterkopf und die Ohren; die meiste Wärme (gelb) strahlen Stirn und Hals ab. Rote und orange Partien liegen dazwischen.

Behaglichkeit: Die dunkele, angenehme Empfindung, welche aus der Zufriedenheit mit seinem gegenwärtigen Zustande entstehet und sich eigentlich durch ein sanftes Lächeln verräth.” So definierte Johann Christoph Adelung vor rund 200 Jahren ein Gefühl, das damals gerade wieder in Mode kam, nachdem das Wort lange Zeit aus Sprache und Gedächtnis der Deutschen verschwunden war.

Das Biedermeier erhob den Begriff zur Lebensauffassung, verankerte ihn wie die artverwandte Gemütlichkeit im kollektiven Bewußtsein und möblierte ihn mit Ohrensessel, Hauspantoffeln, Tabakspfeife und der “Gartenlaube”. Seither haben sich nur die Accessoires geändert. Jogginganzug, Kartoffelchips, Bier und Sportschau zählen nun weithin zu den Grundbestandteilen der Behaglichkeit – der Biedermann heißt jetzt “Couch Potato”. Auch wenn jeder seine Vorstellung von Behaglichkeit ein wenig anders definiert: Sie bleibt ein subjektives Gefühl, die sich dem Zugriff kühler Rationalität entzieht. Möchte man meinen.

Auf Dauer ein unhaltbarer Zustand für die moderne Wissenschaft. Seit Anfang der siebziger Jahre wird Behaglichkeit systematisch und mit streng wissenschaftlichen Methoden definiert und erforscht. Das Schwergewicht liegt dabei auf der Luftqualität und der “thermischen Behaglichkeit”, worunter die Forscher das optimale Raumklima verstehen, in dem sich der Mensch wohl fühlt.

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Die Forschungsarbeiten haben natürlich einen handfesten wirtschaftlichen Hintergrund: Raumklima und Luftqualität haben entscheidenden Einfluß auf die Leistungsfähigkeit des Menschen – sie bestimmen die Faktoren für die ideale Arbeits- und Einkaufswelt im Büro, im Supermarkt oder in der Produktion.

“Thermische Behaglichkeit wird definiert als der Zustand, in dem das Gefühl der Zufriedenheit mit der thermischen Umgebung herrscht”, schreibt P. O. Fanger, der als Nestor und Wegbereiter der modernen Raumklimaforschung gilt. Der Wissenschaftler arbeitet am “Laboratory of Heating and Air Conditioning” der Technischen Universität von Dänemark in Lynby.

Der Gefühlszustand hat in seinem Menschenbild klare physikalische Rahmenbedingungen. Im Körperkern des Menschen herrscht eine konstante Temperatur von rund 37 Grad Celsius. Die Wärme wird durch Verbrennung aufgenommener Energieträger und durch motorische Aktivität erzeugt. Messungen haben belegt, daß sich der Mensch wohl fühlt, wenn seine Hauttemperatur über 34 Grad liegt und seine Stammhirntemperatur 37 Grad nicht übersteigt.

Doch die thermische Behaglichkeit ist empfindlich gegen Störungen. Das Institut für Bauphysik (IBP) der Fraunhofer-Gesellschaft in Holzkirchen konnte nachweisen, daß schon relativ schwache Zugluftströme als äußerst unangenehm empfunden werden, wenn sie einzelne Hautpartien unter die Kaltschwelle von 34 Grad abkühlen. Die Nackengegend und die Knöchel sind da besonders sensibel.

Wann es behaglich ist und wann nicht, hängt nach den Definitionen der Wissenschaftler von sechs physikalisch exakt erfaßbaren Faktoren ab: – Raumlufttemperatur – Oberflächentemperatur der Raumumschließungsflächen – Luftfeuchte – Luftgeschwindigkeit – Körperliche Tätigkeit – Bekleidung Diese sechs Größen fließen ein in die “Fangersche Behaglichkeitsgleichung”. Das Ergebnis dieser Gleichung sind zwei Werte, der “Predicted Percentage of Dissatisfied” (PPD), sowie der “Predicted Mean Vote” (PMV), also der voraussichtliche Anteil thermisch Unzufriedener und die voraussichtliche mittlere thermische Bewertung, Schlüsselgrößen für die Behaglichkeit des Raumklimas.

Besonders wichtig ist das Verhältnis zwischen Raumtemperatur und der Temperatur, die Wände, Boden, Decke und Fenster abstrahlen. Wenn sie zu weit voneinander abweichen, stellt sich schnell das Gefühl körperlicher Unbehaglichkeit ein. Es tritt einseitige Strahlungskühlung auf, die der Mensch als fast so unangenehm wie kalte Zugluft empfindet. Fensterisolierung und Wärmedämmung von Außenwänden spielen deshalb eine gewichtige Rolle.

Raumklima und Luftqualität haben entscheidenden Einfluß auf die Leistungsfähigkeit des Menschen.

Die Temperatur der Raumluft sollte an einem mitteleuropäischen Büroarbeitsplatz bei 22 Grad Celsius im Winter und bei 22 bis 24 Grad im Sommer liegen, fordern Hygieniker. Was behaglich ist, definiert entsprechend eine Deutsche Industrie Norm: eine Raumlufttemperatur von mindestens 22 Grad Celsius, aber nicht viel mehr. 25 Grad sind nur kurzfristig zulässig, etwa zehn Prozent der Aufenthaltszeit.

Zu geringe Luftfeuchte wirkt sich negativ auf die Behaglichkeit aus, weil sie die Staubbildung fördert und zudem die Schleimhäute der oberen Atemwege austrocknet. Wo sie jedoch überhand nimmt, bilden sich Schimmel und Moder auf kalten Oberflächen. Die DIN befindet deshalb eine Luftfeuchte von weniger als 30 Prozent und mehr als 65 Prozent als der Behaglichkeit abträglich.

Allen kann man es freilich nie recht machen. Auch wenn die Bauphysiker im Fangerschen Sinne alle Faktoren, von der Raumlufttemperatur bis zur Luftgeschwindigkeit, von der Luftfeuchte bis zur Bekleidung, auf größtmögliche Behaglichkeit getrimmt haben, werden sich noch immer viele unbehaglich fühlen. Selbst Raumklima-Urvater Fanger beziffert den Anteil derer, denen es auch dann noch zu heiß oder zu kalt ist, denen es zieht oder die sich sonst irgendwie unwohl fühlen, auf mindestens fünf Prozent.

Hans Schmidt

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