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AM ENDE DES REGENBOGENS

Allgemein

AM ENDE DES REGENBOGENS
Eine Tübinger Arbeitsgruppe versucht einen neuen Ansatz zur Züchtung mitwachsender Herzklappen: Der Körper des Patienten soll sie im Wesentlichen selbst produzieren.

Montags kann man Martina Schleicher in aller Frühe vor dem Schlachthof im schwäbischen Gärtringen begegnen. Sie holt dort Rinderherzen ab. „Ganz frische müssen es sein“, sagt die 29-jährige Biotechnologin. Wenig später trifft man Schleicher im Labor der Tübinger Universitätsklinik für Thorax-, Herz- und Gefäßchirurgie an. Sie präpariert dort routiniert den Herzbeutel ab, eine Bindegewebsschicht, die jeden Herzmuskel umhüllt. Sie zerschnipselt ihn in kleine Gewebestückchen. Diese landen in Kulturflaschen mit Speziallösung, und dann geht es ab in einen Brutschrank bei 37 Grad. „Wir lösen alle Zellen ab“, erklärt Schleicher. „Übermorgen ist es so weit“. Und auch das anschließende Beschichten mit Aptameren habe man mittlerweile gut im Griff.

Herzbeutel, Aptamere? Was, Frau Schleicher, machen Sie da eigentlich? „Wir möchten“, antwortet Schleicher bedächtig, „eine nachwachsende Herzklappe züchten.“ Doch Prof. Ulrich Stock, Ärztlicher Direktor der Klinik, stellt sofort klar: „Von einer praktischen Anwendung sind wir weit entfernt.“

Das hörte sich schon mal euphorischer an. Keine zehn Jahre ist es her, dass „Tissue Engineering“, Gewebezucht, boomte. Der Nachbau von Geweben, gar kompletter Organe wurde von Wissenschaftlern und Journalisten fast im Wochenrhythmus angekündigt: neues Ohr, neue Blase, Leber, Harnröhre, eine atmende Lunge. Längst ist klar: Es waren lediglich organähnliche Strukturen, die bei Tierversuchen bestenfalls vorübergehend ihren Dienst taten. Es ist stiller geworden um die Gewebetechnologie. „ Auf Hype folgt Hope“, meint Stock achselzuckend. „Das Feld hat selbst gesteckte Erwartungen bisher nicht erfüllt.“ Herzklappenersatz aus dem Labor ist dabei keine Ausnahme. Obwohl er natürlich ein enormer medizinischer Gewinn wäre.

An die drei Milliarden Mal schlägt unser Herz im Laufe eines Lebens. Doch erst die vier Herzklappen sorgen als lebenswichtige Rückstauventile dafür, dass der Blutfluss im Körper auch eine Richtung hat. Sind Klappen defekt, kann die Medizin heute oft helfen. Rund 21 000 Mal tauschen Herzchirurgen pro Jahr allein in Deutschland Klappen aus.

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MECHANISCH ODER BIOLOGISCH?

Ersatz gibt es im Wesentlichen in zweierlei Gestalt: Mechanische Herzklappen sind robust, halten meist ein Leben lang. Ihr Haken: Der Patient muss ständig Gerinnungshemmer einnehmen, da die fremden Oberflächen die Gerinnungsneigung erhöhen. Biologische Herzklappen stammen nur in seltenen Fällen von menschlichen Spendern, viel gebräuchlicher sind solche aus tierischem Gewebe. Der grundsätzliche Vorteil biologischer Klappen: Die Patienten müssen keine Gerinnungshemmer nehmen. Dafür halten die Klappen im Durchschnitt nur 15 bis 18 Jahre.

Und obendrein sind sie weit weniger biologisch als der Name verkündet. Klappen aus tierischem Gewebe werden mit Glutaraldehyd fixiert. Die Chemikalie tötet alle Zellen und verbackt deren Reste mit der Matrix, einem zellfreien Fasergerüst, aus dem der Organismus die Grundstruktur einer Herzklappe formt. Erst damit wird auch sichergestellt, dass es im Körper des Empfängers nicht zu einer immunologischen Reaktion kommt. Bei Spenderklappen müssen Empfänger und Spender im Immuntyp zueinander passen.

Im Körper mitwachsen kann aber keine der „biologischen“ Klappen, sie bleiben bestenfalls geduldete Fremdkörper. Und das schafft vor allem in der Kinderherzchirurgie ein Riesenproblem. Jahr um Jahr kommen allein in Deutschland an die 200 Kinder mit Herzklappenfehlern auf die Welt. Operationen können sie heute retten, anders als noch vor zwei Jahrzehnten. Aber es sind zahlreiche Operationen, weil das Kind und sein Herz ja wachsen. Ulrich Stock: „Bei Kindern mit Klappenfehlern müssen wir bis zum 16. Lebensjahr drei bis vier Mal die Ersatzklappen tauschen.“ Für Eltern und Kind jedes Mal aufs Neue eine große Belastung, selbst dann, wenn alles gut geht.

DAS TRIO IN DER KABINE

Kein Wunder, dass die Idee einer nachwachsenden Klappe von Kinderärzten stammt. „1993 trafen sich in einer Umkleidekabine im Children’s Hospital in Boston durch Zufall der Kinderherzchirurg John E. Mayer, der Gewebezüchter Joseph Vacanti und der Polymerchemiker Robert Langer“, berichtet Stock, der selbst ab 1997 für drei Jahre am Children’s Hospital mit allen dreien zusammenarbeitete. Boston war damals vor allem durch die Arbeit der vier Vacanti-Brüder zu einem Zentrum des Tissue Engineerings avanciert. Nicht nur aus wissenschaftlichen Gründen, auch wegen des auffallenden Marketings: Charles Vacanti präsentierte 1995 eine Maus mit einem menschlichen Ohr auf dem Rücken, deren Foto um die Welt ging.

Joseph Vacanti versuchte sich 1993 gerade am Nachbau einer Leber und berichtete in der Kabine von erheblichen Problemen, zumal das Organ auch ein Gefäßbett braucht. Mayer, so Stock, habe daraufhin vorgeschlagen: Versuchen wir es doch zunächst mit einfacher zu bauenden Herzklappen. Die bestehen in der Tat aus übersichtlichen drei Zelltypen: Im Inneren sind es Bindegewebszellen (Fibroblasten) und glatte Muskelzellen, außen ein dichter Überzug aus Endothelzellen. In die richtige Form bringt alles die von den Zellen produzierte Matrix. Das Grundgerüst besteht überwiegend aus Kollagenen, faserförmigen Eiweißstoffen, die zum Beispiel auch Hauptbestandteil von Zähnen, Knorpeln oder Sehnen sind.

Etliche Gruppen präsentierten seither Konzepte für den Nachbau. Das klassische sieht so aus: Man nehme ein tierisches Gewebe und befreie es von allen Zellen. Anschließend beschichte man die Matrix im Labor mit den Zellen eines Patienten. Nach der Implantation wird das Konstrukt vom Körper angenommen und nach und nach zur körpereigenen Herzklappe umgebaut. Auch Stock tüftelte viele Jahre an diesem Konzept. Immerhin: Erste Konstrukte, in einem Schaf erprobt, hielten. Allerdings nur so kurze Zeit, dass an eine klinische Erprobung noch lange nicht zu denken ist.

Eine Gruppe um den Hannoveraner Herzchirurgen Prof. Axel Haverich berichtete hingegen schon 2006 im Fachblatt „Circulation“ von ersten klinischen Erfolgen mit diesem Konzept – bei zwei Kindern in Moldawien. 2008 hatten bereits 18 Kinder in Moldawien derartigen Herzklappenersatz erhalten – und erstmals auch ein Junge in Deutschland. Stock bleibt dennoch skeptisch: „Wir haben keine publizierten Belege, dass diese Konstrukte mitwachsen.“

Obendrein käme die Realisierung dieses Konzepts, selbst wenn es wirklich machbar würde, extrem teuer. Eine biologische Klappe vom Spender oder vom Tier ist derzeit für 1500 bis 1800 Euro zu bekommen. Eine mit Zellen eines kleinen Patienten im Labor besiedelte Herzklappe kostet hingegen an die 40 000 Euro. „Firmen“ , berichtet Stock, „rechnen uns vor, dass sie schon Stückzahlen von 100 000 im Jahr erreichen müssten, um ihre Investitionen hereinzuholen und damit der Preis langfristig sinkt.“ Das schafft ein hartes marktwirtschaftliches Dilemma: Weltweit brauchen pro Jahr nur 3500 bis 4000 Kinder eine neue Herzklappe – ein vergleichsweise kleiner Markt. Ulrich Stock: „Bei dem hohen Preis geht da kein Hersteller hinein.“

LOCKVOGEL FÜR SCHWIMMENDE ZELLEN

Mit einem radikal abgespeckten Konzept versucht Stocks Gruppe deshalb mittlerweile einen praktikableren Ansatz: Ein Gerüst – die nackte Matrix einer Herzklappe, frei von Ursprungszellen und mit speziellen Botenstoffen beschichtet – soll reichen. Nach der Implantation müsste der Körper des Patienten die „teure“ Besiedlung mit Zellen selber leisten. Eine derartige Herzklappenmatrix ließe sich günstig auf Vorrat produzieren und lagern. Das Ziel soll in mehreren Schritten erreicht werden. Die Tübinger möchten zunächst ein Klappengerüst bauen, das Vorläufer von Endothelzellen aus dem Blutstrom anlockt: endotheliale Progenitorzellen (EPC). Als Lockvogel soll eine neue High-Tech-Beschichtung dienen, die schon erwähnten Aptamere. Das sind Einzelstränge aus Nukleinsäure – dem Baustoff der Erbsubstanz DNA.

Die Chemie der Aptamere ist einfach: Vier Basen – Guanin, Adenin, Thymin und Cytosin – stehen zur Auswahl, in beliebiger Reihenfolge durch chemische Synthese verknüpfbar. Aptamere sind zwischen 20 und 220 Basen lang – was im letzteren Fall die ungeheure Zahl von 4220 verschiedenen Molekülen liefert. Jedes Aptamer hat dabei seine eigene räumliche Struktur, die es wiederum nur an ganz bestimmte Zielstrukturen binden lässt. Und mit etlichen Labortricks lassen sich heute aus einer Vielzahl synthetisierter Aptamere jene herausfiltern, die an ein gewünschtes Ziel andocken. Eine zweite Arbeitsgruppe an der Tübinger Uniklinik für Thorax-, Herz- und Gefäßchirurgie um Dr. Hans-Peter Wendel hat bereits ein Aptamer entwickelt, das gut an EPC bindet. Vorerst geht es um EPC von Mäusen.

Mit diesem Aptamer beschichtet Martina Schleicher heute routinemäßig ihre Gewebestückchen. „Am Ende der Woche haben wir Aptamere als geschlossenen Rasen auf der Matrix verankert“, berichtet Schleicher. Und am nächsten Montag, genau eine Woche nach dem Besuch im Schlachthof, inkubiert Schleicher dann ihre Kreation mit einer Lösung, in der unter anderem auch EPC stecken. Die Zellen, so erste Analysen, docken auch tatsächlich an.

WAS NOCH ZU LÖSEN IST

Der weitere Weg lässt sich nur skizzieren. Zunächst steht die Suche nach noch spezifischeren Aptameren an. Dann muss der Prototyp sich im Mausmodell bewähren. Später müsste eine Studie in Schafen folgen. Noch später gilt es, Aptamere für menschliche EPC zu entwickeln. Und viele biologisch-technische Fragen sind dabei noch offen:

• Giftigkeit. Auch wenn Aptamere als ungiftig gelten – einige sind bereits als Medikament auf dem Markt –, bleibt dies konkret auch in diesem Fall neu zu testen.

• Auswahl der Zellen. Für den Umbau in eine körpereigene Klappe reicht eine Besiedlung allein mit Endothelzellen nicht. Später müssten sich auch noch Fibroblasten und glatte Muskelzellen des Patienten einfinden.

• Ausschluss von Entzündungsreaktionen. Einige Hersteller wie die US-Firma Cryolife und die Berliner Autotissue GmbH sind seit Jahren mit unbeschichteten, einfach nur von den Zellen befreiten Matrizes am Markt. Sie werden bereits kindlichen Patienten eingesetzt. Cryolife änderte allerdings das eigene Produkt umgehend ab, nachdem es 2001 zu Todesfällen bei drei von vier implantierten Kindern kam: Die Klappen hatten sich entzündet. Ein Vorfall, der zur Vorsicht mahnt. Stocks Arbeitsgruppe setzt deshalb auf eine zusätzliche Beschichtung, um eine Zellbesiedlung zu erreichen, die solche Entzündungsreaktionen verhindert.

Vor allem aber: „Auch hier gibt es nirgends einen Beleg, dass diese unbeschichteten Produkte von Zellen des Patienten besiedelt werden und anschließend auch wirklich mitwachsen“, betont Stock. Herzklappenersatz, der bei Kindern mitwächst, bleibt für ihn ein Fernziel „am Ende des Regenbogens“, wie es sein Kollege John E. Mayer einmal formuliert hat. Stock: „Wenngleich ein sehr lohnendes.“ ■

von Bernhard Epping

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