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Auf der Suche nach der Welt von Morgen

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Auf der Suche nach der Welt von Morgen
Warum Delphi-Studien für den Innovationsforscher Hariolf Grupp mehr sind als wissenschaftliche Kaffeesatzleserei.

bild der wissenschaft: Ende 1993 wurde in Deutschland eine Untersuchung vorgestellt, in der sich rund 1000 Experten zu wissenschaftlichen und technologischen Durchbrüchen im nächsten Jahrhundert äußerten. Wie bewerten Sie die Ergebnisse dieser sogenannten Delphi-Studie heute, Herr Dr.Grupp?

Grupp: Für die Technologie-Politik der Bundesrepublik sind diese Ergebnisse wichtig. Ansonsten hätte das Bundesforschungsministerium wohl kaum eine zweite Delphi-Studie finanziert, an der wir arbeiten und deren Ergebnisse Anfang 1998 vorgestellt werden sollen.

bild der wissenschaft: Nennen Sie bitte einige der interessantesten Befragungsergebnisse der ersten Studie.

Grupp: Die erste deutsche Delphi-Studie ergab, daß man bis 1998 damit rechnen kann, daß sich Klimaanlagen ohne Fluor-Kohlenwasserstoffe durchsetzen. Das dürfte in der Tat der Fall sein. Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms wurde damals für die Zeit um 2010 vorhergesagt. Dies scheint mir auch heute noch realistischer zu sein, als die etwas euphorischen Angaben interessierter Kreise, die dieses Resultat bereits zur Jahrhundertwende haben wollen. Weitgehend richtig lagen die damals Befragten auch mit ihrer Einschätzung, daß Computer etwa im Jahr 2003 so weit sein werden, daß sie Handschriften lesen können.

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bild der wissenschaft: Wem nutzen diese Antworten?

Grupp: Nach dem Zerfall des Ostblocks hat sich eine völlig andere weltwirtschaftliche Lage ergeben. Angesichts dieser Globalisierung reichen die Selbstheilungskräfte einer nationalen Wirtschaft und die Selbstbestimmungsmöglichkeiten einer nationalen Wissenschaft nicht mehr aus, um eine erfolgreiche Wissenschafts- und Technologiepolitik zu betreiben.

bild der wissenschaft: Bitte konkreter, was hat die Öffentlichkeit davon?

Grupp: Mit der Delphi-Studie bedienen wir verschiedene Ziel Gruppen: Unternehmensplaner, Technologiepolitiker, natürlich auch die Öffentlichkeit. Was letztere angeht, stießen wir auf große Skepsis, bis hin zum Vorwurf, warum sich bekannte Wissenschaftler für so einen „Unsinn“ hergeben. Erst im Lauf der Zeit hat die Öffentlichkeit verstanden, daß es nicht um Prophezeiungen geht, sondern darum, Visionen aufzuzeigen. Diese Bilder sind Grundlage für eine gesellschaftliche Diskussion – ob wir einen bestimmten Weg einschlagen sollen oder lieber davon Abstand nehmen.

bild der wissenschaft: Heißt das, daß die von Ihnen maßgeblich verantwortete Delphi-Studie die öffentliche Diskussion verändert hat?

Grupp: Ja. Noch vor wenigen Jahren war man strikt für oder gegen eine Technologie. Heute läuft die Diskussion differenzierter ab: Gentechnik in der Medizin stößt auf Wohlwollen, Gentechnik im Lebensmittelbereich weit weniger. Um eine solche Diskussion zu führen, braucht man visionäre Bilder, wie wir sie durch die Delphi-Studie gezeichnet haben.

bild der wissenschaft: Und was hat die Studie hinsichtlich der strategischen Unternehmensplanung bewirkt?

Grupp: Die Unternehmen sind die größten Profiteure unserer Arbeit. Wir wissen, daß viele Unternehmen die Delphi-Ergebnisse direkt in ihre Strategie einfließen ließen. Manche Manager wollten uns gleich beauftragen, die Resultate auf ihre Bedürfnisse anzuwenden. Andere Manager machten die Angelegenheit zur Chefsache und erklärten die Umsetzung zum Betriebsgeheimnis.

bild der wissenschaft>: Medikamente gegen Krebs wird es um das Jahr 2004 geben, heißt es in der ersten Delphi-Studie. Hat dies Pharmaunternehmen animiert, die Forschung anzukurbeln?

Grupp: Solche Jahreszahlen besagen in erster Linie, daß die Fachwelt – also Industrie- und Hochschulforscher – weitgehend einig ist, daß dieses Ziel bis dahin erreicht werden kann. Unternehmen werden ihr Forschungsbudget deshalb zwar nicht über den Haufen werfen. Ich denke allerdings schon, daß sie ihre strategischen Entscheidungen anhand unseres umfassenden Expertenurteils überprüfen: Ob sie etwa ins Ausland verlagern sollen oder nicht, was sie zukaufen, was nicht.

bild der wissenschaft: Die Delphi-Methode wurde in den fünfziger Jahren von der amerikanischen Firma Rand entwickelt, ist ab den siebziger Jahren in Japan verfeinert und erst in den neunziger Jahren nach Deutschland gebracht worden. Was unterscheidet die erste deutsche Delphi-Studie von der zweiten?

Grupp: Beim ersten Mal – 1992/93 – haben wir die gesamte Methodik von Japan übernommen und die Fragen exakt übersetzt. Wir wollten sehen, ob die Methodik bei uns vergleichbar funktioniert. Das war der Fall. In unserer zweiten Delphi-Studie sind nun zwei Drittel der Fragen landesspezifisch formuliert.

bild der wissenschaft: Wie viele Wissenschaftler wurden für die zweite deutsche Delphi-Studie angeschrieben, wie viele haben geantwortet?

Grupp: Die Eckwerte wurden 1996 von einem zehnköpfigen Lenkungsausschuß festgelegt, den Bundesminister Dr. Jürgen Rüttgers berufen hat. Die Fragen ausgewählt haben etwa 100 Leute. Ausgesandt wurden die Fragebögen an rund 8000 Personen, wovon 2700 den Bogen fast vollständig ausgefüllt zurückschickten. Das ist ein hervorragendes Ergebnis und zeigt die gewachsene Akzeptanz der Delphi-Befragung.

bild der wissenschaft: Was läßt Sie hoffen, daß nach bestem Wissen geantwortet wird und nicht bloß Kreuzchen gemacht werden?

Grupp: Sicherlich ist das korrekte Ausfüllen der Bögen aufwendig und kostet einen Arbeitstag. Manche haben sich dieser Mühe in der Freizeit unterzogen, manche haben das Ausfüllen an verschiedene Sachbearbeiter delegiert, wie man an der unterschiedlichen Farbe der Schreibstifte sehen kann. Weiterhin zeigt das äußerst seltene Ankreuzen „besondere Fachkenntnis“, daß die Fragen zumindest aufmerksam gelesen werden. Wir können also davon ausgehen, daß sich die Antwortenden wirklich Zeit genommen haben, wofür wir natürlich sehr dankbar sind.

bild der wissenschaft: Damit nicht genug. Jene 2700, die geantwortet haben, mußten in einer zweiten Befragungsrunde nochmals ran.

Grupp: Genau dies ist vor wenigen Wochen erfolgt. In dieser zweiten Runde haben die Befragten die Möglichkeit, sich vom kollektiven Urteil ihrer Fachkollegen nochmals inspirieren zu lassen – oder aber auf ihrem bisherigen Standpunkt zu bleiben. Dies ist ein wichtiges Regulativ, erst dadurch wird aus einer Befragung eine Delphi-Studie.

bild der wissenschaft: Wie wirken sich Alter, Ausbildungsrichtung, geistige Grundhaltung der Befragten auf die Einschätzung der Zukunft aus?

Grupp: Um darüber etwas sagen zu können, fragten wir nach sogenannten Megatrends. Darunter versteht man etwa Meinungen über den Standort Deutschland, zur Weltbevölkerungs-Entwicklung oder zur Klimakatastrophe. Aus den Antworten erfahren wir etwas über das persönliche Grundmuster der einzelnen Wissenschaftler: Bei unserer Befragung haben sich fünf Grundmuster herauskristallisiert: Standortoptimisten, Umweltpessimisten, Fortschrittsskeptiker, Bevölkerungsoptimisten und Neutrale. Wir werden die Fachantworten auch vor dem Hintergrund dieser menschlichen Grundmuster bewerten.

bild der wissenschaft: Heißt das, daß Sie durch die zweite Delphi-Studie auch konkrete Aussagen darüber treffen können, in welchen Fachbereichen welche Grundeinstellung vorherrscht?

Grupp: In der Tat treten gewisse Grundhaltungen in bestimmten Fachbereichen gehäuft auf. So sind Experten aus Produktion und Management ausgesprochen optimistisch, was die Lösung globaler Bevölkerungsprobleme angeht. Unter den Fachleuten für Landwirtschaft und Ernährung sind dagegen viele Umweltpessimisten zu finden. Standortoptimisten findet man vor allem bei den Befragten, die mit Information, Kommunikation, Wissen sowie mit Dienstleistung und Konsum zu tun haben.

bild der wissenschaft: Der Fall des Ostblocks, der sensationelle Aufstieg des Computers, Stagnation und Niedergang bei der Kernenergie sind Beispiele für Entwicklungen, die kein Experte vorhergesehen hat. Gesellschaften funktionieren oft nach merkwürdigen Gesetzen und scheren sich nicht nach dem, was Experten für erstrebenswert erachten.

Grupp: Dennoch ist eine Delphi-Studie mehr als Kaffeesatzleserei. Um das zu verdeutlichen, reicht ein Blick zurück: auf die erste Delphi-Studie der Japaner. Sie ist 1971 entstanden – also vor der ersten Ölkrise. Diese Studie machte Aussagen über Entwicklungen der achtziger und neunziger Jahre. Ergebnis: Ein Drittel der Antworten traf gänzlich ins Schwarze. Damit liegt dieser Wert gut doppelt so hoch, wie er nach purer Zufallsverteilung zu erwarten wäre. In Medizin, Informationstechnik, Landwirtschaft und sogar im Umweltschutz ist die Entwicklung weitgehend so verlaufen, wie die japanischen Experten zu Beginn der siebziger Jahre erwarteten. Ein weiteres Drittel kann man aufgrund sprachlich ungenauer Zuordnung aus heutiger Sicht als zutreffend oder nicht zutreffend einstufen. Und nur im dritten Drittel lagen die Experten gänzlich daneben. Diese Antworten beziehen sich vorzugsweise auf Ressourcen und Energie.

bild der wissenschaft: Ressourcenschonendes Denken war 1971 noch nicht angesagt. Grupp: In der Tat spiegelt sich im Befragungsergebnis der ersten japanischen Delphi-Studie die allgemeine Nachkriegs-Euphorie. Für mich heißt dies, daß solche Untersuchungen nicht nur auf Naturwissenschaften und Technik beschränkt bleiben dürfen, sondern auch auf andere Disziplinen ausgedehnt werden sollten…

bild der wissenschaft: …was aber selbst bei der zweiten deutschen Delphi-Studie kaum der Fall ist.

Grupp: Wir haben zusätzliche Themen wie die Gestaltung des Arbeitsplatzes, Management, Wissen, Erziehen und Ausbildung abgefragt. Aber im Kern kann das Forschungsministerium seinen Zuständigkeitsbereich „Naturwissenschaft, Medizin, Technik“ nicht vernachlässigen.

bild der wissenschaft: Über die Zukunft der vielbeschworenen Dienstleistungs-Gesellschaft erfährt man dann wohl wenig.

Grupp: Wir haben einen Fragebogen „Dienstleistung und Konsum“ formuliert, der sich damit auseinandersetzt. Auf den sind wir stolz, denn der war nicht unumstritten. Die Antworten sind in jeder Hinsicht auffällig.

bild der wissenschaft: Berichten Sie mal.

Grupp: Bundesminister Jürgen Rüttgers wird das Anfang nächsten Jahres sicher tun.

Wolfgang Hess / Hariolf Grupp

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