Sie streiten schon wieder – obwohl das Thema Abgeklärtheit und Würde verlangt. Doch Einigkeit ist in der „Heiligen Allianz“ selten, jenem exklusiven Kreis der obersten deutschen Forschungsmanager, die Institutionen wie Hochschulen, Max-Planck-Gesellschaft oder Deutsche Forschungsgemeinschaft vertreten. Normalerweise reden sie über Geld oder politische Strategien, dieses Mal aber geht es um die Vergangenheit: Auch 55 Jahre nach dem Ende des Dritten Reiches ist das unselige Erbe der deutschen Wissenschaft noch nicht aufgearbeitet. Lange Jahre wurde dieses Thema verdrängt. Hinweise auf Verstrickungen wurden als Einzelfälle abgetan. Nichts durfte am Glanz der deutschen Forschung kratzen. Doch in letzter Zeit zeigt sich immer deutlicher, daß da mehr war. Es werden Vorwürfe gegen den ehemaligen Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft – bis Kriegsende Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft – erhoben, den Nobelpreisträger Adolf Butenandt, und Belege tauchen auf, daß Kaiser-Wilhelm-Forscher mit KZ-Ärzten gemeinsame Sache gemacht haben. Beim Dissens der Forschungsmanager geht es um das „Wie“ und wohl auch um das „Wie gründlich“. Die einen möchten alles schnell hinter sich haben, die Schuld der deutschen Wissenschaft eingestehen, Opfer und Nachkommen um Vergebung bitten. So plant das Max- Delbrück-Zentrum für Molekulare Medizin in Berlin-Buch bereits eine Gedenktafel – denn der Campus gehörte einmal zum Kaiser-Wilhelm-Institut für Gehirnforschung, wo Experimente mit Gehirnen Behinderter gemacht wurden. Manchen geht das mit dem Eingeständnis aber zu schnell. Wissen wir genug, um das ganze Ausmaß der Schuld zu erkennen? Max-Planck-Präsident Hubert Markl meint, eine Bitte um Vergebung – nach allem, was geschehen ist – wäre zu einfach, zu oberflächlich. Er will die Ergebnisse einer unabhängigen Kommission abwarten, die er beauftragt hat, die Verstrickungen der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zu erforschen. Markl hat recht: Eine Entschuldigung ist ein symbolischer Akt, der allein nichts verändert und weder eine Basis für Besinnung noch für Neuanfang schafft. Es wird Zeit, nicht nur für die Max-Planck-Gesellschaft, sondern für die gesamte deutsche Forschung, die Vergangenheit gründlich und offen aufzuarbeiten – angefangen bei der Rolle einzelner Forscher über die staatstragende Rolle ihrer Institutionen bis hin zur Verstrickung ihrer Nachkriegshelden in die Unmenschlichkeiten des Dritten Reichs. Dies gilt für jedes Institut, jede Hochschule, jede ehrwürdige Gesellschaft und jede Forschungsgemeinschaft. Wissenschaft wird von Menschen gemacht. Nicht Fakten, sondern Menschen spielen die entscheidende Rolle. Wo baut die heutige Wissenschaft auf Menschen, die sich schuldig gemacht haben? Wo wurden Ergebnisse mit unmenschlichen Methoden gewonnen? Wo steht Forschung von heute auf den Schultern von Verbrechen? Es wäre gefährlich, die Augen zu verschließen. Wie sollten wir sonst – in Zeiten neuer ethischer Herausforderungen – die Kompetenz beanspruchen, die menschlichen Grundwerte zu verteidigen. Es ist gut, daß die „Heilige Allianz“ jetzt diskutiert. Sie sollte gleich auch den größten Skandal aufgreifen: Warum diese Diskussion erst nach 55 Jahren in Gang kommt, warum der Ruf nach Aufklärung erst jetzt erschallt. Die Schuldigen dafür sind mitten unter uns: Alle, die in den letzten fünf Jahrzehnten für Forschung in Deutschland Verantwortung trugen. Die Herren müssen sich auch an die eigene Nase fassen.
Reiner Korbmann