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Augen auf und durch

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Augen auf und durch
Gentherapie nach dem ersten Todesfall. Mißerfolge, Fehleinschätzungen, Tote – warum funktioniert die Gentherapie nicht? Weshalb sind die Forscher trotzdem optimistisch und planen neue Behandlungsversuche?

Philadelphia, im September 1999. 18 Jahre alt ist Jesse Gelsinger geworden. Dann stirbt er am Institut für Humane Gentherapie (IHGT) der Universität von Philadelphia an den Folgen eines Gentherapieversuchs, der seine erbliche Leber-Stoffwechsel-Krankheit heilen sollte. Millionen von manipulierten Viren, beladen mit intakten Leber-Genen, sollten dem jungen Mann Genesung bringen. Doch sein angeschlagener Körper kapituliert vor der Vireninvasion. Er fällt ins Koma, dann stirbt er. Entsetzen unter den Gentherapeuten weltweit. Wie konnte das passieren? Bisher hatte man die Gentherapie für sicher gehalten.

Szenenwechsel: München, im Dezember 1999. Auf einem Kongreß berichtet Prof. Alain Fischer vom Kinderkrankenhaus Necker in Paris von zwei Kindern, die an einer schweren erblichen Immunschwäche, dem sogenannten X-SCID (SCID = Schwerer Kombinierter Immun-Defekt) leiden. Obwohl bei den kleinen Patienten nur ein Gen auf dem X-Chromosom defekt ist, fehlen ihnen viele Immunzelltypen und Antikörper. Schon ein harmloser Schnupfen könnte das Ende bedeuten. Fischer entnahm den Kindern unreife Blutzellen, verankerte darin intakte Doppelgänger der defekten Gene und injizierte die Zellen ihren Besitzern zurück. Die neuen Gene machten die Abwehr der Kinder wieder flott. Die sterilen Plastikzelte in der Klinik sind Vergangenheit. Die Kinder leben seit über einem halben Jahr zu Hause – ohne Angst vor Schnupfen. Gentherapie zwischen Entsetzen und Enthusiasmus? Die Forscher sind mit ihren Prognosen vorsichtig geworden. Auch Fischer gibt sich betont zurückhaltend. Er preist seine Resultate nicht euphorisch als den lange ersehnten Durchbruch, sondern betont, daß die Kinder ständig untersucht werden müßten, weil man nicht wisse, ob sie dauerhaft geheilt sind. Vor wenigen Jahren klang das noch anders. Vor allem Gentech-Firmen weckten bei Patienten und Investoren vollmundig große Hoffnungen, die sich jedoch schnell in Luft auflösten. „Keinen der 4000 Patienten, die an 300 Studien teilgenommen haben, konnten wir heilen“, stellt heute Prof. Bernd Gänsbacher von der Technischen Universität München fest. „Die Methode ist einfach noch nicht ausgereift.“ Trotzdem hält er die Gentherapie für eine Behandlung mit großer Zukunft.

Warum setzen selbst zurückhaltende Wissenschaftler weiter auf die Gentherapie – und warum funktioniert sie bisher nicht? Im Tierexperiment bewirkte die Genheilung bisher wahre Wunder. Tausende von Nagetieren konnten damit von Tumoren aller Art befreit werden. Fremde Gene helfen Tieren mit Bluterkrankungen, chronischen Schmerzen, schlecht heilenden Knochenbrüchen, Sichelzellanämie, Rückenmarksverletzungen und Stoffwechselleiden. Doch Verfahren, die bei einer 100 Gramm leichten Maus funktionieren, müssen an einen 70 Kilo schweren Menschen angepaßt werden. Und das ist schwieriger als die Forscher annahmen. „Es ist beängstigend, daß wir kein Tiermodell haben, auf das wir vertrauen können“, kommentiert Wilson das Dilemma. Eine der wichtigsten Erkenntnisse bisher: Es ist nicht damit getan ist, die verabreichte Gendosis entsprechend dem menschlichen Körpergewicht zu erhöhen. Die Forscher müssen noch viele grundlegende Fragen klären. Die Achillesferse der Methode ist der Gentransfer. Weil jede Zelle mit der gleichen Erbinformation ausgestattet ist, müßten die heilenden Gene theoretisch in alle Billionen Zellen eines Menschen importiert werden. Das ist praktisch unmöglich. Zum Glück aber werden nicht sämtliche der schätzungsweise 100000 Gene des Menschen in jedem Gewebe oder Organ benötigt. Es reicht also aus, die heilsamen Gene dort einzuschleusen, wo sie tatsächlich gebraucht werden. Aber auch das sind noch Millionen von Zellen. Die derzeit effektivsten gebräuchlichen Vehikel für den Gentransfer – die sogenannten Vektoren – sind Viren. Die Winzlinge haben über Tausende von Jahren geradezu geniale Tricks entwikkelt, um ihre Erbinformation in unsere Zellen einzuschmuggeln, denn sie brauchen unsere Zellmaschinerie, um sich fortzupflanzen. Die Genforscher entwaffnen und manipulieren die Viren, um sie als Genfähren zu benutzen. Sie setzen ihnen heilsame Gene ein und schneiden dafür die Gene aus, die die Viren für ihre eigene Vermehrung benötigen. Derart verstümmelt laden die Viren ihre genetische Fracht zwar in den Zellen ab, aber das Kommando können sie dort nicht mehr übernehmen.

Viele Gentherapieversuche laufen mit Adenoviren – Erkältungserregern – als Genfähren. Doch die sind nicht unproblematisch: Zum einen halten sie sich nicht lange in der Zelle. Der therapeutische Effekt der eingeschleusten Gene ist deshalb oft nur kurz. Zum anderen reagiert das Immunsystem schnell auf die Eindringlinge. Es vernichtet die infizierten Zellen und damit auch ihre heilsame Genfracht. Außerdem rufen Adenoviren toxische Effekte und leichte Entzündungsreaktionen hervor. Geradezu panisch antwortete das Immunsystem von Jesse Gelsinger auf die über 30 Millionen Adenoviren, die ihm Gentherapie-Pionier James Wilson vom IHGT direkt in die Leber injizieren ließ. Die Obduktion des Amerikaners ergab, daß die Viren anscheinend eine heftige Immunreaktion verursacht hatten. Die genetisch veränderten Zellen wurden zerstört, ihre Eiweiße freigesetzt. Diesen zusätzlichen zellulären Müll konnte die angegriffene Leber nicht entsorgen. Denn die war am Tag des Experiments – das geht aus den Laborberichten hervor – in einer besonders schlechten Verfassung. Ein Organ nach dem anderen versagte, bis schließlich auch das Herz aufhörte zu schlagen.

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„Ein Gesunder hätte das mit links weggesteckt“, erklärt Gänsbacher. „Aber Gelsinger hätte nicht behandelt werden dürfen.“ So urteilte auch die oberste amerikanische Arzneimittelbehörde FDA. Sie stoppte alle Gentherapie-Versuche am IHGT. Die Viren hatten schon zuvor einigen Probanden Leberprobleme bereitet. Schließlich fanden sich die Viren nicht nur – wie geplant – in Gelsingers Leber, sondern auch in Milz, Gehirn, Nieren, Lunge und Knochenmark. Solche Nebenwirkungen hatte Wilsons Arbeitsgruppe allerdings bereits bei Affen beobachtet und sogar im Antrag zur Genehmigung der Studie dokumentiert. Unerklärlicherweise teilte Wilson diese Ergebnisse seinem Probanden nicht mit. Dies ist um so tragischer, als Gelsinger seine Krankheit mit konventioneller Therapie recht gut im Griff hatte. Die US-Ethikkommission RAC hat jetzt zu größter Vorsicht im Umgang mit Adenoviren geraten.

Dieser „tragische Einzelfall“ dürfe aber nicht das Aus für die Gentherapie sein, fordert Gänsbacher. Denn: „Wir Mediziner an Unikliniken haben doch die Aufgabe, neue Therapien zu entwickeln und uns nicht mit dem Status quo zu begnügen.“ Und entwickeln heißt probieren und verbessern. Gänsbacher verweist auf die Anfänge der Chemotherapie. „Als die vor 50 Jahren erfunden wurde, starben neun von zehn Probanden. Und heute funktioniert sie.“ Die Forscher greifen zur Zeit tief in ihre molekulare Trickkiste, um effektivere, aber gleichzeitig sanftere Genfähren zu entwickeln. Ein Ziel ist es, die Trefferquote der Viren zu erhöhen. So schmuggeln sie „Andockstellen“ in die Hüllen der Viren, um sie gezielt zu den anvisierten Zellen zu steuern. Die Suche nach nicht-viralen und nebenwirkungsarmen Methoden ist in vollem Gang. Nackte DNA, also ohne Genfähren oder andere „Verpackung“, kann man gezielt in Organe oder Muskeln spritzen. Forscher der Tufts-Universität in Boston injizierten solch nackte Gene zur Neubildung von Blutgefäßen in die Beine von Patienten mit schweren Durchblutungsstörungen. Es bildeten sich tatsächlich neue Äderchen. Eine weitere Lösung für die Probleme der Gentherapeuten könnte „Stammzellen“ heißen. Stammzellen sind wahre Verwandlungskünstler. Sie sind die Quelle für alle spezialisierten Zellen unseres Körpers. Aus Blutstammzellen bilden sich die Zellen des Blutes und des Knochenmarks, also rote und weiße Blutkörperchen. Stammzellen hat man in vielen Geweben entdeckt: in Muskeln, Knochen und Knorpel, Nervensystem, Leber und Bauchspeicheldrüse. Gelänge es, intakte Gene dauerhaft in diesen Zelltyp einzuschmuggeln, würden alle ihre laufend gebildeten Abkömmlinge diese neue Erbinformation tragen. Das verspräche dauerhafte Heilung.

Doch Stammzellen sind nicht besonders kooperativ. Es ist schwierig, sie aus dem Körper zu holen und zu kultivieren. Außerdem wehren sie sich gegen fremde Erbinformation. Zumindest die ersten beiden Probleme wollen die Professoren Peter Gruss und Herbert Jäckle vom Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen umgehen, indem sie die Stammzell-Gentherapie nicht im Reagenzglas, sondern direkt im Körper vornehmen. Geplant ist das zum Beispiel bei Zukkerkranken, bei denen die sogenannten Inselzellen kein Insulin mehr erzeugen. Die beiden Forscher haben einen Genschalter namens Pax4 entdeckt. Er regt Stammzellen in der Bauchspeicheldrüse an, Insulin-produzierende Zellen zu bilden. Mit einem Endoskop wollen die Forscher Pax4- Gene wie bei einer Magenspiegelung direkt in die Bauchspeicheldrüse bringen. Für ihre revolutionäre Therapie-Idee bekamen die Göttinger Forscher im letzten Jahr den Deutschen Zukunftspreis (bild der wissenschaft „Der Preis des Präsidenten“, 12/1999). Gänsbacher ist trotz aller ungelöster Probleme optimistisch. Er startet demnächst eine eigene Studie zur Genbehandlung von Prostatakrebs. Für ihn ist die derzeitige Gentherapie nur der Anfang einer medizinischen Revolution. Keine andere existierende Therapie-Idee eröffnet den Medizinern so viele Heilungsmöglichkeiten: „Nur mit Gentherapie können wir endlich heilen, statt nur Symptome zu bekämpfen.

Die Medikamente der Zukunft werden nicht mehr Chemie sein, sondern Gene. Wie Gentherapien dann allerdings aussehen werden, weiß ich nicht“, meint Gänsbacher. Doch er ist überzeugt: „ Bestimmt nicht so wie heute. Auch die moderne Chemotherapie hat mit ihrer ursprünglichen Anwendung nur wenig gemeinsam. Aber das Konzept hat sich bestätigt, auch wenn es nicht sofort funktionierte.“

Trend: Krebstherapie

Obwohl die Gentherapie nicht richtig funktioniert, hat sie bereits eine Trendwende hinter sich. Ursprünglich war sie zur Heilung von sogenannten monogenischen Krankheiten gedacht. Nur ein einzelnes Gen ist bei den Patienten defekt und verursacht doch schwerste, oft tödliche Erkrankungen. Bluterkrankheit, Mukoviszidose, Stoffwechselerkrankungen wie der sogenannte OTC-Mangel bei Jesse Gelsinger, verschiedene Muskel- und Immunschwächen sind nur einige Beispiele. Die Forscher versuchten die Patienten zu heilen, indem sie ihnen intakte Gene „ transplantierten“. Heute geht es bei 70 Prozent der Studien um Krebs. Das ist auf den ersten Blick erstaunlich, da in Tumorzellen mehrere Gene krankhaft verändert sind. Das macht eine Gentherapie noch komplizierter. Aber Krebs ist die Todesursache Nummer zwei in den Industrieländern. Allein in den USA erkranken jährlich eine Million Menschen daran. Viele Menschen würden von Krebsmedikamenten profitieren – und natürlich die Pharmaindustrie. Dementsprechend kreativ sind die Genforscher. Sie ersannen zahlreiche Strategien, um mit Genen gegen die tödlichen Wucherungen vorzugehen. Allerdings gilt auch bei der Krebsbehandlung mit Genen: Im Tierversuch funktioniert die Therapie oft sehr gut, beim Menschen nicht.

Die neuen Krebsstrategien: 1. Selbstmord

Problem: Tumorzellen sind unsterblich, weil bei ihnen wichtige Gene beschädigt sind, die gefährliche Zellen normalerweise in den geplanten Selbstmord (Apoptose) schicken. Strategie: Einer der entscheidenden und bei vielen Krebsarten defekten Selbstmordschalter ist das p53-Gen. Schleust man intakte p53- Gene in Tumorzellen ein, so starten sie das Selbstmordprogramm. p53-Gene können eine Operation oder Chemotherapie nicht ersetzen, aber unterstützen, indem sie einzelne Krebszellen oder Metastasen töten.

2. Impfung

Problem: Tumorzellen können sich tarnen und so patrouillierenden Immunzellen entkommen. Strategie: Man markiert im Labor herausoperierte Krebszellen des Patienten mit Signalmolekülen und injiziert sie anschließend zurück in den Körper. Die Immunzellen werden jetzt quasi doppelt aufmerksam und eliminieren sowohl die markierten als auch die unbehandelten Krebszellen.

3. Chemotherapie

Problem: Bei einer Chemotherapie sterben nicht nur Krebszellen, sondern auch gesunde Zellen, vor allem die für die Immunabwehr unentbehrlichen Zellen im Knochenmark. Strategie: Gesunde Knochenmark- zellen werden mit Resistenz-Genen versehen, die sie unempfindlich gegen Chemotherapeutika machen. So gerüstet überstehen diese Zellen auch Hochdosis-Chemotherapien.

4. Wachstumsfördernde Gene

Problem: Bei manchen Tumorarten sind wachstumsfördernde Gene ständig aktiv. Strategie: Man „transplantiert“ Kontrollgene und senkt so die Aktivität der gefährlichen Gene. Die Folge: Der Tumor hört auf zu wachsen.

Lifestyle-Gene: schöner, schneller, schlauer

Gentherapie macht’s möglich: Der ängstliche, dümmliche Schmalhans wandelt sich zum potenten, selbstsicheren, muskelbepackten Intelligenzbolzen. Glauben Sie nicht? Funktioniert aber, zumindest bei Nagetieren: Eine Injektion in die Geschlechtsteile, und schon haben männliche Ratten länger und standhafter Lust. Das Gen eNOS mit der Bauanleitung für ein Stickoxid-produzierendes Enzym sorgt für eine bessere Durchblutung des Penis. Dookie heißt eine Intelligenz-Maus, die dank eines zusätzlich eingeschleusten Gens sogar Legosteine wiedererkennt. Für stählerne Muskeln sorgt ein Gen-Anabolikum bei schlappen Mäusen. Menschliche Versuchskaninchen müssen noch auf die Gentherapien gegen Schwächlichkeit, Aknepickel oder Haarausfall warten. Aber bestimmt nicht mehr lange: Mit Lifestyle-Medikamenten lassen sich riesige Gewinne einfahren. Pharmafirmen haben es vorgemacht: Erst entwickelten sie Antibiotika, dann Viagra. Die Biotech-Firmen warten nur noch auf die „richtigen“ Gene.

Karin Hollricher

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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