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„Das Gehirn ist tabu!“

Allgemein

„Das Gehirn ist tabu!”
Werden Organe aus vermenschlichten Tieren einst so selbstverständlich sein wie eine Herztransplantation von Mensch zu Mensch? Kritische Fragen an den Gen-Forscher Rudi Balling. Das Interview führte Sascha Karberg Rudi Balling Er ist seit den 1980er-Jahren einer der umtriebigsten Genforscher Deutschlands. Nachdem Rudi Balling (*1953) wichtige Forschungen in der Entwicklungsgenetik vorangetrieben hatte, machte er sich seit Anfang der 1990er-Jahre einen Namen durch die biomedizinisch-molekularbiologische Neuausrichtung des Instituts für Säugetiergenetik des Münchner GSF Forschungszentrums für Umwelt und Gesundheit und der Braunschweiger Gesellschaft für Biotechnologie. An beiden Instituten, die heute Teile der Helmholtz-Gemeinschaft sind, wird intensiv mit „humanisierten Mausmodellen” geforscht. Seit 2009 ist Balling Gründungsdirektor des Luxemburger Zentrums für Systembiologie.

bild der wissenschaft: Was bedeutet für Sie der Begriff „Humanisieren”, Herr Professor Balling?

In der Biologie ist Humanisieren ein rein technischer Begriff, und zwar für zwei Anwendungen: Erstens für die Veränderung der DNA-Sequenz nichtmenschlicher Organismen, sodass dort die menschlichen Gen-Varianten untersucht oder für die Produktion von Proteinen genutzt werden können. Und zweitens für das Einbringen von menschlichen Zellen in nicht-menschliche Organismen, um bestimmte Eigenschaften zu studieren, Antikörper zu produzieren oder Impfstoffe zu testen. Was Humanisieren aber nicht bedeutet, ist, dass das Tier menschlicher oder humaner im psychologischen oder kognitiven Sinne wird.

Dass in diesem Begriff das Vermenschlichen von Tieren mitschwingt, ist also nur ein Missverständnis?

Wie viele andere Worte kann man auch „Humanisieren” in verschiedenen Kontexten verwenden. Wenn Biologen von der Humanisierung von Antikörpern oder dem Humanisieren von DNA-Sequenzen sprechen, dann hat dieser Begriff eine ganz spezielle technische Bedeutung. Aber wer die Technologie nicht kennt, der bringt seine eigenen Wertvorstellungen und Wortbedeutungen mit und interpretiert etwas hinein, was so nicht gemeint war.

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Heute haben Wissenschaftler die technischen Möglichkeiten, mithilfe von Stammzellen Mensch-Tier-Chimären zu erschaffen. Kann man da überhaupt noch sagen, ob die Chimäre eher menschlich oder eher tierisch ist?

Wie überall gibt es hier kontinuierliche Übergänge. Es ist für mich kein Problem, wenn ein Verbrennungsopfer tierische Hautzellen als Übergangslösung nutzt oder Patienten eine Zeit lang ein Schweineherz nutzen. Aber natürlich sehe ich auch Schreckensbilder von Chimären vor mir, wie sie die griechische Mythologie beschreibt. Es ist schwer zu sagen, wo die Grenze zu ziehen ist, was akzeptabel ist und was nicht. Sind zehn, tausend oder eine Million menschliche Zellen im Tierkörper akzeptabel? Die Grenze liegt dort, wo die Menschenwürde anfängt. Daher haben wir hier eine ähnliche Diskus- sion wie beim Streit darüber, wo das Leben anfängt: bei der Befruchtung, bei der Implantation, nach der Geburt? Zum Schluss ist es eine gesellschaftliche Entscheidung, was akzeptabel ist. Ein Mischwesen ist sicher nicht akzeptabel.

Ihr Kollege Hiromitsu Nakauchi hat beantragt, seinen Versuch mit menschlichen Stammzellen wiederholen zu dürfen. Wenn seine Technik tatsächlich die Produktion menschlicher Organe in Tieren ermöglicht, müssen wir dann Ausnahmen für das deutsche Embryonenschutzgesetz formulieren?

Man sollte über alle Gesetze alle 15 Jahre neu nachdenken. Aber derzeit gibt es keinen Grund, die Regelung, dass menschliche Eizellen oder Stammzellen für Chimären-Experimente nicht benutzt werden dürfen, infrage zu stellen. Ich sehe allerdings voraus, dass wir zu diesem Thema eine Diskussion führen werden. Der Unterschied fängt da an, wo ein gewisser Prozentsatz von menschlichen Zellen in einem Tier überschritten wird. Wir kommen zurück zu der Diskussion, wo der Sitz der Seele ist und was den Menschen zum Menschen macht. Ist das Gehirn unantastbar, und ist ein menschliches Herz im Tier okay? Ich kann das selbst nicht beantworten, noch nicht. Aber ich kann das Unbehagen nachvollziehen.

Empfinden Sie Unbehagen, wenn Sie eine Schaf-Ziege-Chimäre wie die „Schiege” sehen, bei der die Artenmischung äußerlich erkennbar ist?

Ich hätte eher Unbehagen, wenn die geistigen Fähigkeiten eines Tiers verändert würden. Ich hätte kein Problem damit, wenn menschliche Hautzellen im Tier zu Transplantationszwecken wachsen würden.

Würden denn chimäre Tiere mit menschlichen Zellen im Hirn tatsächlich wie Menschen denken können?

Das kann ich mir nicht vorstellen. Das Gehirn steht ja nicht allein, sondern im Verbund mit Augen, Ohren, Nase, aber auch mit Erinnerung, Erziehung, sozialer Interaktion und so weiter. Nur weil die basale Physiologie in solch einer Chimäre durch menschliche Gene gesteuert wird, dürfte das nicht zu menschlichem Denken führen. Trotzdem ist zurzeit jedem klar: Das Gehirn ist tabu. Und das ist auch gut so.

Drehen wir den Spieß um: Ist es denkbar, den Menschen ein Stück weit zu „animalisieren”, zum Beispiel für bessere sportliche Höchstleistungen?

Was den Sport betrifft, sollte das einfach verboten werden, so wie andere Doping-Methoden auch. Aber im Grunde ist es schon eine „Animalisierung”, wenn einem Patienten ein Stück Schweineherz eingesetzt wird. Allerdings würde ich nicht von Animalisieren sprechen, denn Worte wie Animalisieren und Humanisieren versetzen den Leser ja in eine gewisse Stimmung …

Es geht darum, über die Biotechniken nachzudenken, die das Übertreten der Artgrenzen möglich machen, und das Unbehagen zu transportieren, das viele Menschen dabei empfinden.

Sicher regt das zur Diskussion an, und das ist gut so. Aber so wie die Begriffe Humanisieren und Animalisieren hier verwendet werden, polarisiert das eben auch.

Wenn sogar ein Experte wie Sie Schwierigkeiten hat, eine klare Grenze für den Grad des Humanisierens von Tieren zu definieren – überfordern Sie die Gesellschaft dann nicht? Wäre es nicht besser, jegliches Humanisieren zu unterlassen?

Ich kann zurzeit keine Grenze nennen, aber ich ziehe nicht die Schlussfolgerung daraus, dass es keine Grenze geben kann. Man muss Grenzen setzen, und die Gesellschaft wird sie setzen. Wo, da spielen ästhetische, kulturelle und viele andere Aspekte eine Rolle. Im Moment besteht der Konsens, das Gehirn außen vor zu lassen. Und viele Leute würden sagen: Lasst äußerlich erkennbaren Chimärismus außen vor. Das sind zwei praktikable Grenzen. Aber ich weiß nicht, wie die Gesellschaft in vielen Jahren entscheiden wird, wenn diese Technik neue Therapien ermöglichen könnte. Ich habe noch erlebt, wie das erste Herz transplantiert wurde – von Christiaan Barnard in Kapstadt. Das Verpflanzen eines Herzens von einem Menschen zu einem anderen provozierte damals einen großen emotionalen Aufschrei. Das berührte ein extremes Tabu, denn das Herz, das heute im Grunde nur als eine Pumpe verstanden wird, galt damals als ein ebenso zentrales menschliches Organ wie heute das Gehirn. Und ich weiß gar nicht, was sich geändert hat, dass die Gesellschaft Herz-Transplantationen heute vollkommen akzeptiert. ■

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