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Das kalte Phänomen

Allgemein

Das kalte Phänomen
Frappant: Selbst bei extrem frostigen Temperaturen von 200 Grad minus hat Eis eine flüssige Oberfläche.

Es ist Sommer – Zeit für kühle Drinks unter heißer Sonne. Allerorten in Cafés und Bars klimpern Eiswürfel in hochwandigen, beschlagenen Gläsern. Aber warum kleben die Eiswürfel aneinander, kaum daß sie sich berührt haben?

Das ist nicht die einzige seltsame Eigenschaft von Eis. Denn obwohl es kristallin ist wie Sand, sind seine gefrorenen Flächen glatt und rutschig. Der Grund dafür erschließt sich selbst gestandenen Chemikern und Physikern nicht leicht, obwohl Wasser zu den bestuntersuchten Molekülen gehört. Ein internationales Team am Max-Planck-Institut für Strömungsforschung in Göttingen hat dem gefrorenen Naß jetzt einige seiner Geheimnisse entlockt.

Es fand heraus, daß die Moleküle an der Eisoberfläche äußerst beweglich und nicht fest in das Kristallgitter eingebunden sind. Dieses „Wasser auf dem Eis“ kann bislang nicht deutbare Eis-Spezialitäten plausibel erklären.

Jahrzehntelang glaubten Wissenschaftler, Eis sei deshalb so schlüpfrig, weil es unter Druck – zum Beispiel von Schlittschuhen oder Skiern – flüssig wird. Doch Druck alleine macht das Eis nicht wäßrig. Die Ursache dafür liegt vielmehr in der molekularen Struktur der Eisoberfläche. Peter Toennies, Leiter der Arbeitsgruppe für molekulare Wechselwirkungen am Göttinger Institut, macht kein Hehl aus seiner Verwunderung: „Wasser und Eis sind unglaublich kompliziert.“ Dabei ist ein einzelnes Wassermolekül denkbar einfach aufgebaut: zwei Atome Wasserstoff und ein Atom Sauerstoff.

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Um herauszufinden, wie die Moleküle an der Eisoberfläche organisiert sind, haben die Forscher dünne Eisschichten von etwa 30 Atomlagen mit Helium-atomen beschossen. Die Helium-atome sind im Vergleich zu den Wassermolekülen so leicht und energiearm, daß sie nicht in das gefrorene Wasser eindringen, sondern an dessen Oberfläche reflektiert werden. Aus dem Reflexionsmuster schlossen die Physiker auf die Struktur der obersten Molekülschicht.

Das überraschende Ergebnis: Die Moleküle der außenliegenden Wasserhaut werden erst bei etwa minus 240 Grad Celsius ortsfest und gehen im Eisgitter vor Anker. „Solche flüssigen Oberflächen findet man auch bei einigen Metallen, beispielsweise bei Blei“, erklärt Toennies. „Allerdings erst bei sehr hohen Temperaturen, etwa zehn Grad Celsius unter dem jeweiligen Schmelzpunkt.“

Daß die Wassermoleküle bereits bei viel tieferen Temperaturen unruhig umherschwärmen, erkläre auch, warum andere Forschergruppen keine schlüssigen Ergebnisse über die molekulare Struktur der Eisoberfläche erhalten hätten, meint Toennies. Denn bisherige Streu- und Beugungsversuche seien durchweg bei höheren Temperaturen durchgeführt worden. „Aber bereits bei minus 180 Grad Celsius schwingen die Wassermoleküle so heftig, daß man kein eindeutiges Reflexionsmuster bekommt“, sagt Toennies.

Eindeutig gelöst ist nach Ansicht der Göttinger Wissenschaftler das „Verschmelzen“ zweier Eiswürfel im Mineralwasser: Die obersten, extrem beweglichen Wassermoleküle auf dem Eis können leicht zwischenmolekulare Bindungen eingehen. Dadurch wird die Beweglichkeit der Moleküle ähnlich stark eingeschränkt wie im Inneren eines Eiskristalls.

Auch ein Phänomen in 35 Kilometer Höhe am Polarhimmel wird nun erklärlich: Die wimmelnden Wassermoleküle auf Eisoberflächen sind auch an der Entstehung des Ozonlochs beteiligt. In der Stratosphäre fangen Eiskristalle während des antarktischen Winters Chlorverbindungen ein und speichern sie. Wäre die Eisoberfläche nicht so beweglich und weich, sondern hart, dann würden die im Vergleich zum Eiskristall leichten Gasmoleküle wie Ping-Pong-Bälle abprallen.

„Sobald die Sonne intensiver scheint, zerfallen die Chlorverbindungen, wobei das Eis als Katalysator wirkt“, erklärt Alexei Glebov, Mitarbeiter von Peter Toennies. Die dabei entstehenden Chloratome zerstören das Ozon. Aufatmen bei den Theoretikern – denn sie wunderten sich schon lange: In der freien Gasphase könnten chemische Reaktionen, die zum Ozonabbau führen, nicht häufig genug ablaufen, um das Ozonloch über dem Südpol auszulösen.

Karin Hollricher

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ausfrie|ren  〈V. 140〉 I 〈V. i.; ist〉 zu Eis erstarren, durch u. durch gefrieren ● ich bin ganz ausgefroren 〈regional〉 durch u. durch kalt … mehr

ka|ta|to|nisch  〈Adj.; Med.〉 an Katatonie leidend ● ~es Syndrom = Katatonie … mehr

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