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Das Viagra-Syndrom

Allgemein

Das Viagra-Syndrom
„Viagra“, die Potenzpille für den Mann, entblößt eindrücklich die Impotenz und die Beziehungskrisen des bestehenden Gesundheitswesens. Das findet Dr. Ellis Huber, bis Anfang 1999 Präsident der Berliner Ärztekammer. Er fordert einen Kurswechsel der Gesundheitspolitik.

Der katholische Priester, der freiwillig zölibatär lebt und auf Viagra verzichtet, ist kein kranker Mann: Ein selbstbestimmtes Leben verschafft dem Menschen gute Gesundheit. Der Don Juan hingegen, der jetzt dank Viagra seine Schürzenjägerei potenziert ausleben kann, ist dadurch kein Ausbund von Vitalität und Gesundheit: Die mit dem neuen Dopingmittel ständig verfügbare Erektion kann Partner krank machen, sexuelle Neurosen verstärken und sogar tödlich enden. Weltweit mehr als 500 Männer sollen bislang in Zusammenhang mit Viagra gestorben sein, berichtete kürzlich die Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft. Was ist „gesund“ , was „krank“? Es gibt offenbar – erstens – subjektive Bedürfnisse für das Wohlbefinden. Zweitens existiert ein Bedarf der Allgemeinheit an Leistungen des Gesundheitssystems, die für alle gleichermaßen sinnvoll sind. Gesundheit ist somit einerseits individuell, andererseits sozial definiert. Und ein wirklich soziales Gesundheitssystem muß zwischen Individuum und Gesellschaft eine integrierende Rolle spielen. Doch der Pharmamarkt folgt einer anderen Logik. Die schnelle Mark mit einer gepushten Schluckkultur ist das vorherrschende Ziel der Pharmakonzerne. Marketingstrategen entwickeln laufend neue Heilsversprechen. Individuelle Bedürfnisbefriedigung durch „ Lifestyle-Medikamente“ und die dadurch ausgelösten Ansprüche wirken allerdings auf das soziale Gefüge zurück. Die gesellschaftspolitische Kardinalfrage lautet: Wie wird der individuelle Bedarf nach medizinischen, pflegerischen oder gesundheitsförderlichen Angeboten in der Gesetzlichen Krankenversicherung von den – durchaus legitimen – Bedürfnissen einzelner Menschen abgegrenzt? Die Potenzpille ist ein Beispiel für die Schwierigkeit dieser Abgrenzung. Immer mehr Pillen gegen Fettleibigkeit, Haarausfall, Herzschmerzen und Traurigkeit kommen auf den Markt. Die medizinische Industrie und der Pharmamarkt kolonialisieren erfolgreich den menschlichen Körper. Der Pharmakonzern Pfizer entwickelte Viagra ursprünglich als Herz-Kreislauf-Medikament. Solche Präparate sind in der Apotheke billig, die Gewinnspannen klein. Nur zufällig wurde die profitable Nebenwirkung entdeckt. Die Firma stellt eine Tablette für 10 bis 12 Pfennige das Stück her, verkauft sie aber für 20 bis 26 Mark. Der Bedürfnismarkt neurotischer wie auch gesunder Potenzwünsche schenkt diese Kaufkraft bereitwillig her. Die Aktionäre streichen die Gewinne ein – ihr gutes kapitalistisches Recht: Schließlich ist die Kirche des Shareholder Value in einer toleranten Kultur ebenso berechtigt wie die Heilsarmee. Aber ist es Aufgabe eines solidarisch finanzierten Gesundheitssystems, Aktienkurse zu beflügeln und Kassenbeiträge in individualisierte Profite umzurubeln? Die Kassen- und Ärztefunktionäre in Deutschland entschieden, Viagra sei zu kostspielig und würde die Leistungsfähigkeit der Solidargemeinschaften sprengen. Der National Health Service in England urteilte anders: Er bezahlt eine Pille pro Woche. Auch das Gesundheitswesen in Österreich finanziert das Mittel bei krankhaft bedingter Störung der Sexualität und verlangt von den Ärzten die schwierige Abgrenzung zwischen berechtigtem Gesundheitsbedürfnis und selbstgerechtem Macho-Lebensstil. Der moderne Kapitalismus und seine erfolgreichsten Akteure, die Pharmakonzerne, sind außer Rand und Band geraten. Ich bin überzeugt: Die industrialisierten Gesellschaften sind nur dann zukunftsfähig, wenn sie die aggressiven, selbstsüchtigen Energien der Wirtschaft durch ein sozial integrierendes, gleiche Chancen schaffendes Gesundheitssystem ergänzen. Wie Yang und Yin oder der Tag und die Nacht einander ergänzen, benötigt „Kapitalismus pur“ eine versöhnliche Gesundheitspflege, um auf Dauer überleben zu können. Und dazu müssen der lukrative Volksbeglückungswahn der Pillenproduzenten und die Ausbeutungswut der Pharmamärkte gezügelt werden. Gehört das Gesundheitssystem dem Kapital mit seinen Gesetzen oder den Menschen mit ihren zivilen Bedürfnissen? Ist es Teil eines Wirtschaftssystems oder Teil der sozialen Kultur? Die systemische Krankheit des bundesdeutschen Gesundheitswesens ist das Verdrängen der Entscheidung zwischen Moral und Profit, zwischen Nächstenliebe und Eigennutz. Diese Verdrängung wird durch Theorie und Praxis der herrschenden Medizin noch unterstützt. Aber Liebe ist nicht auf Hormonspiegel oder körperliche Funktionsfähigkeiten reduzierbar. Die Macht des Geldes, rücksichtsloser Egoismus und der Glaube an die Herrschaft über Körpermaschinen sind der Nährboden des Viagra-Syndroms. Das soziale Gesundheitswesen wird daran zugrundegehen, wenn Politik und Ärzteschaft nicht mutiger dagegenhalten.

Ellis Huber

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