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Der Anatomiekurs

Allgemein

Der Anatomiekurs
Wenn Medizinstudenten Tote sezieren, betreten sie eine andere Welt. Sie überwinden den Ekel. Wehren Schuldgefühle ab. Und lassen sich vom Körper faszinieren.

Berlin, im späten Oktober – manche von ihnen wußten genau Bescheid. Andere hätten noch vor kurzem nicht im Traum an diesen Tag gedacht. Jetzt ist er da. Die jungen Medizinstudenten, die auf den steilen Rängen im Anatomie-Hörsaal der Freien Universität sitzen, ahnen, daß sie heute Tabus brechen werden.

Was wird in ihren Köpfen passieren, wenn sie in die Toten schneiden?

Natürlich – seit fünf Jahrhunderten sezieren Ärzte systematisch Leichen, Hunderttausende, mancherorts wurden sie sogar aus Gräbern ausgescharrt, in diesen fünf Jahrhunderten hat die Medizin, die in den Körper eindrang, allmählich Macht über ihn und seine Krankheiten gewonnen – die Leichen haben die Medizin stark gemacht. Aber einfach in einen Toten schneiden?

Die Studenten warten ab.

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Dann Stille. Die Räusperer verstummen.

Dort unten im kunstbeleuchteten Hörsaal, wo sich jetzt alle Blicke kreuzen, steht Reinhart Gossrau. Der hagere Mann im geschlossenen Kittel, der seit Jahrzehnten Anatomie lehrt, schlägt das grüne Tuch von einem Körper zurück, der auf einem fahrbaren Tisch hereingeschoben worden ist, direkt vor das breite Vorlesungspult.

Wer in den ersten Reihen sitzt, riecht den fremden Geruch. Ein Geruch wie von kaltem Fett und süßen Zwiebeln.

Einige Minuten spricht Gossrau über den Tod und das Leben. Der Tod gehöre zum Leben dazu, sagt Gossrau. Er erzählt davon, wie ihm die Gallenblase herausoperiert wurde und welche Bedeutung die Anatomie für den Arzt besitzt. Dann wird Gossrau sachlicher, ein leises Murmeln setzt ein. Die Leiche wird hinausgeschoben und die Vorlesung beginnt. Kugelschreiber klicken.

Nur wenige Schritte entfernt liegt im gebohnerten Seziersaal des Anatomie-Instituts die Leiche 131/99. 131/99 ist schlank, nicht sehr breit, aber muskulös, fast athletisch und vielleicht 1,70 lang. Merkwürdig anonym wirkt der rasierte Körper mit den zugekniffenen Augen, so, als hätte er sein Geschlecht verloren. Erst der Blick auf die kahle Scham verrät, daß 131/99 eine Frau ist. Sie ist eine von 14 Leichen im Saal. Die Leichenpräparatoren des Instituts haben die Toten „aufgelegt“, wie sie sagen. Nun warten die kalten Körper auf Edelstahltischen. Gleich, nach der Vorlesung, werden die Studenten in den Seziersaal kommen.

Vielleicht ist das Befremden, das die Körper auslösen, ja ein biologisches Erbe. „Auch Schimpansen besitzen ein Empfinden für den Tod“, sagt Christophe Boesch vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Die Affen könnten zwischen verletzten und toten Artgenossen genau unterscheiden. Einem getöteten Schimpansen leckten sie das Blut nicht mehr ab. Und jüngere Tiere würden durch ältere Affen vom Kadaver weggejagt.

„Wer faßt zuerst an?“ Die Frage steht den Studenten im Gesicht geschrieben. Sie drängen sich vor den Türen des Seziersaals zusammen, dann betreten sie in ihren sauberen Kitteln den Saal. Jede der Achtergruppen wird von einem Tutor begleitet, einem älteren Studenten, der während des Sezierkurses mitarbeiten wird und die Neulinge zu ihren Leichen führt.

131/99 liegt auf Tisch 12. „Ins Gesicht schauen, das ist schwer gewesen“, gesteht Vediye. Vediye ist 23 und trägt ein Kopftuch. Gemeinsam mit Miriam, Marcin und Dennis, mit Funda, Emine, Iwona und Wessam steht die junge Türkin nun an ihrer Leiche. Fünf Frauen, drei Männer, die sich bisher nicht gekannt haben. Zusammen sind sie 131/99 zugeteilt worden.

Von der kahlen, fleckigen Kopfhaut gleitet der Blick über die geschlossenen Lider zum leicht geöffneten Mund. Schöne Zähne! Daß die noch echt sind! Es ist schwer zu sagen, wie alt die Frau wohl war, deren Körper so überraschend regungslos daliegt. „Die sieht doch noch ganz gut aus“, habe sie gedacht, verrät die 21jährige Miriam später, eine zierliche Studentin mit rötlichen Haaren. Die perfekten Zähne, die straffe Haut, die gepflegten Fingernägel! „ 60, höchstens 70″, schätzt Miriam das Alter der Frau.

Die Nummer ist auf kleinen schwarzen Plastikmarken an den Daumen, großen Zehen und Ohrläppchen zu lesen. „131″ steht für den Namen, „99″ für das Todesjahr. „In der Rechtsmedizin“, erinnert sich Vediye fast erleichtert, „habe ich schon Wasserleichen gesehen, das war noch einen Zacken schärfer.“ Dennoch muß sie sich überwinden, Gesicht, Hände und Füße der Frau zu berühren. Gesicht, Hände, Füße – das ist die einfache Antwort auf die Frage, was einen Menschen ausmacht.

Ja, sagt Vediye, sie mache sich Gedanken, wie die Frau wohl früher gelebt hat, „wie sie spazierengegangen ist, was sie gegessen hat“. Doch die Studenten wissen nichts über die Lebensgeschichte der Toten, keinen Namen, kein Alter. Und nur ungern möchte sie an das Leben dieses Menschen denken, sagt Vediye.

Manche im Saal trauen sich. Sie lassen die Plastikhandschuhe weg. Sie nehmen mit den Körpern Fühlung auf, als müßten sie sie begrüßen und gleichzeitig von ihnen Abschied nehmen. „Ledern“, meinen einige. „Kalt“, andere. Die Konservierung mit Formalin hat die Leichen verändert. „Puppen“, „wächserne Hüllen“. Sie bluten nicht mehr. Das hilft. Wenn junge Menschen oder frisch Verstorbene auf den Tischen lägen, das wäre schlimm. Aber das? Zum Glück ist aus den alten Leichen jedes Leben gewichen.

„Wir sollten anfangen“, mahnt Reinhart Gossrau, der von Tisch zu Tisch geht. Er will nicht drängen, aber die Zeit ist knapp. Zweimal pro Woche werden die Studenten einen halben Tag lang an den Leichen arbeiten, insgesamt 23mal. Es kostet Mühe, einen Körper in 23 Sitzungen zu „präparieren“, wie sich die anatomische Technik nennt.

„Ich habe nicht das Recht dazu“, sei ihr durch den Kopf gegangen, sagt Funda später. Funda ist 25. Sie hat ihr Studium in Deutsch und Geschichte fast abgeschlossen. Aber sie will Ärztin werden. Funda kommt wie Vediye aus einer türkischen Familie und ist in Süddeutschland aufgewachsen – „als waschechte Schwäbin“, wie sie sagt. „Schaffen“ müsse sie auch noch nebenher, in einem Call-Center und einer Arztpraxis.

Es sei für sie eine große Ehre, daß sich ihr die tote Frau zur Verfügung gestellt hat, meint Funda. „Aber es ist schlimm, einfach hineinzuschneiden.“ Dennoch tut sie es. „Ich muß das ja machen.“

„Eklig!“, sagt Vediye und spricht für viele im Saal. Die weiße Haut der Leichen ist bereits durch feine, lange Schnitte in Regionen aufgeteilt worden – für jeden Studenten ein Arbeitsfeld. Nun haben sie begonnen, die Haut zu entfernen. Mit der Pinzette wird ein Hautzipfel gefaßt und mit dem Skalpell von der darunterliegenden Schicht abgelöst. Das Fettgewebe, das zum Vorschein kommt, hat sich mit Formalin vollgesogen und gibt beißende Schwaden ab. Wenn man das Formalin nur allein riecht, ist es süßlich und scharf. Zusammen mit dem Fett ist er dann da, der Geruch.

Am Ende des Tages legen die Studenten ein weißes, formalingetränktes Tuch über den Körper von 131/99. Dann gehen sie nach Hause.

Wie wird wohl die Nacht?

Viel ist gestritten worden über die Erfahrung, durch die junge Mediziner eine andere Welt zu betreten glauben. Kritiker halten die Lektion an der Leiche für einen fragwürdigen Initiationsritus. Im Seziersaal lerne der Student Grenzen überschreiten und Konflikte verdrängen – um spätere Patienten mit emotionaler Distanz behandeln zu können. So meinte der Soziologe Frederick Hafferty, der vor Jahren Anatomiestudenten an einer US-Universität beobachtete, die Leichensektion sei ein „ emotionaler Rubikon“ – eine Scheidelinie zwischen jenen, die ihre verstörenden Gefühle kontrollieren könnten, und den anderen, die zum Arzt nicht taugten.

„Wieviel Anatomie an der Leiche brauchen wir wirklich?“, fragt Walter Burger, der an der Berliner Charité einen Reformstudiengang mit aufgebaut hat. Im Gegensatz zur herkömmlichen Medizinerausbildung ist hier der Sezierkurs keine Pflicht. „Mit der Lebenswelt eines Patienten umzugehen“, ist Burger überzeugt, „das müssen Ärzte auf jeden Fall verstehen. Eine Leiche zu präparieren dagegen nicht.“ Wie in ähnlichen Reformstudiengängen in Witten/Herdecke, in Holland oder den USA lernen die Studenten von vornherein am Beispiel konkreter Patientengeschichten. Wenn es um den Aufbau bestimmter Organe gehe, könnten sie auch im Anatomie-Hörsaal dort bereit gehaltene Leichenpräparate studieren – freiwillig, sagt Burger.

Selbst unter Anatomen ist umstritten, wie wichtig die Leichensektion für den Arztberuf ist. Muß man die Leiche selbst zerlegen? Oder genügt es, mit bereits fertig präparierten Körpern, mit Kunststoffmodellen oder sogar nur mit Computerprogrammen in den Bau des Organismus einzudringen? „Das Präparieren selbst ist vielleicht nur zweitrangig“, sagt Reinhart Gossrau. Unersetzbar bleibe jedoch, die Leichen betasten und befühlen zu können – nur unter den eigenen Händen lasse sich der Körper begreifen.

Am nächsten Morgen läßt sich bereits ein großes Stück Rumpfhaut von 131/99 wie eine rechteckige Flügeltür zur Seite klappen. An der Unterseite erscheint die gesäuberte Haut pockennarbig. Es wird ruhig präpariert an Tisch 12, ohne Hektik, ohne laute Stimmen. Alle Schritte sind vorgegeben. Die Studenten arbeiten gleichzeitig an verschiedenen Regionen, am Hals, am Rumpf, am Bein. Sie zupfen mit den Pinzetten das Fettgewebe heraus und werfen es in einen roten Plastikeimer.

Marcin ist gespannt auf diesen Körper. Marcin ist ein nachdenklicher junger Mann mit dunklen Haaren und einer zarten Brille. „Der Geruch, das Fett, das ist abstoßend“, gesteht der 22jährige, „aber ich möchte weiter voran.“ Erst unter seiner Fettschicht wird ein Körper für ihn spannend.

Die bedrückenden Gefühle von gestern seien noch da, sagt Marcin. Doch alles werde schnell zur Routine. Man habe den Kopf voll, sei so beschäftigt. „Dann geht man nach Hause, ohne verstanden zu haben, was eigentlich passiert.“ Hinter der Brille wirken seine Augen müde, aber schlafen habe er gekonnt, sagt Marcin. Manche andere im Saal lagen in der Nacht wach, oder sie haben von verstorbenen Verwandten geträumt. Jemand mußte sich in der U-Bahn erbrechen. „Meine Mutter sagt, ich soll das nicht machen“, meint Vediye. „Iß doch was“, habe ihre Mutter dann noch gesagt. Aber das Hähnchen, nein, das konnte sie nicht runterkriegen.

Es ist verblüffend, wie schnell an 131/99 rot-braune Muskeln und sogar Rippen zum Vorschein kommen. Die bauchigen Muskeln sind voll und schön geformt, so, als hätte die Frau sie zu Lebzeiten trainiert.

„Große Angst hatte ich beim ersten Mal“, erinnert sich Dennis. Er ist 23, ein sportlicher Typ. Nebenher arbeitet er im Rettungsdienst. Den Kurs hat er schon einmal begonnen. Er brach ab. „Allein der Gedanke, der Lerndruck, der Geruch“ – er wollte ganz mit der Medizin aufhören. Doch jetzt, da fühle er sich abgeklärt. „Heute hat es sogar Spaß gemacht“, sagt Dennis.

Es ist schwierig, in einem Körper das zu entdecken, was man im Anatomieatlas vorher betrachtet hat. Noch sind die Studenten unsicher. Ist es ein Hautnerv? Oder doch ein Blutgefäß? Diskussionen beginnen. Am Ende des Tages wird dann repetiert, was zu sehen ist. Musculus sternocleidomastoideus – mit dem dreht man den Hals. Musculus pectoralis – der wird durch Liegestützen trainiert. Die Muskeln von 131/99 glänzen.

Dann wird abgeräumt. Die Studenten drängen sich an den Waschbecken, putzen die Pinzetten und Skalpelle. Erschöpfung in den Gesichtern. Die beiden schlimmsten Tage sind geschafft.

Eilig kommen die Präparatoren in Handschuhen und Gummistiefeln in den Saal. Die Leichen müssen von den Tischen – um nicht auszutrocknen. Jetzt ist klar, wozu die großen Wannen unter den Fensterfronten dienen. In wenigen Minuten sind die Körper darin verschwunden. Mit einem zischenden Wasserstrahl werden die Stahltische abgespritzt.

Es ist Freitag mittag.

„Vielleicht“, sinnt Reinhart Gossrau nach, „gehöre ich zu einer aussterbenden Spezies.“ In seinem Büro hängt eine Büste von Friedrich Kopsch, einem der großen Anatomielehrer des 20. Jahrhunderts. Es gebe nur noch wenige Anatomen alter Schule, die die Leiche bis in die Tiefe zergliederten.

„Wir machen noch Anatomie in letzter Konsequenz, bis zu den Gelenken, bis zum Gehirn“, sagt Gossrau, der Marlboro Lights raucht und meint, das Formalin steigere sein Nikotinbedürfnis noch. Als er selbst in den Sechzigern Medizinstudent war, standen sie zu 48 an der Leiche. „Man ging hin, sah wenig, sprach nicht über die Toten, das war’s.“

Gossrau hat eine sinnliche Beziehung dazu, Dinge im Körper zu finden, von denen er weiß, daß sie dort sein müssen. „Mir macht das Zerlegen Freude“, erzählt er. Gruselig war es für ihn nie. Wie manche seiner Kollegen arbeitet er ohne Handschuhe. Aus Gewohnheit, sagt er. Und wegen des Kontakts zum Gewebe.

Anfang November, drei Wochen nach Beginn der Präparation, wird 131/99 gewendet. Die Leiche liegt jetzt auf dem Bauch. Die Haut am Rücken wird entfernt, glänzendes, sehniges Gewebe kommt zum Vorschein, in dem die starke Wirbelsäulenmuskulatur wie in Schläuchen steckt. Und an der Rückseite des Oberschenkels ist bereits der Ischiasnerv zu sehen, der größte und längste Nerv des Körpers, der wie ein fast fingerbreites, flaches Computerkabel zwischen den zahlreichen Muskeln nach unten zieht und mit seinen Verzweigungen noch die Fußspitzen belebt.

Inzwischen hat sich Gelassenheit im Saal ausgebreitet. Es wird gelacht, ein bißchen geflirtet. Die Studenten sprechen darüber, was im Fernsehen war, über Ulrich Wickert, Bill Clinton und die Wahl in den USA. Die meisten haben sich an die Körper gewöhnt, manche können sich sogar begeistern. Wenn er mit seiner Freundin im Bett liege, erzählt ein Student, betrachte er ihre Muskeln mit ganz neuem Interesse.

Das Schlimmste sind nicht mehr die Leichen – man kommt, da liegen sie, man arbeitet, man geht nach Hause. Das Schlimmste ist das Lernen. Vier, sechs, acht Stunden am Tag. Es ist die Ironie des Kurses, daß die Angst vor der Leiche durch die Angst vor der Prüfung verdrängt wird. „Die machen Druck“, beschwert sich Miriam, der ein paar Strähnchen ihrer rötlichen Haare ins Gesicht hängen. Morgen werden die Studenten an Tisch 12 zum ersten Mal abgefragt. Insgesamt stehen sieben Prüfungen über die zahllosen Strukturen des Körpers bevor: Muskeln, Knochen, Organe, Blutgefäße – der ganze Stoff eben. Allein von den Muskeln gibt es rund 300. Vielleicht ist nur ein Taxischein schwieriger.

Wenn der Druck nicht wäre, sagen einige, könnte das Ganze eigentlich schön sein. Schön? „Nein, schön nicht wirklich“, schränkt Dennis ein. Dennis hat die Körperwelten-Ausstellung besucht, in der geruchlose Körper mit eingefärbten Muskeln fürs Publikum posieren und Tote Schach spielen oder durch die Luft kraulen. Die Körperwelten-Ausstellung sei schön gewesen, sagt Dennis. Aber der Seziersaal? Seziersaal und Körperwelten, das ist wie Rohputz und Deckenstuck.

„Aber interessant, das ist das Präparieren“, ergänzt Dennis. Schon jetzt könne er sich bei der Arbeit im Rettungsdienst manches herleiten. „Unbedingt“, stimmt Funda zu, „man muß das hier einmal gesehen haben.“ Sie glaubt, daß sie viel von dem vergessen wird, was sie jetzt lernen muß. Aber sie ist fasziniert vom Bau des Körpers – „wie wir beschaffen sind, wie wir funktionieren“. Und ihre Bedenken, an Toten zu schneiden? Die sind geblieben, sagt Funda.

Wer in den alten Aufzug steigt und vom Saal eine Etage nach unten fährt, gelangt in ein kleines Labyrinth von Räumen, das aussieht wie ein Heizungskeller. Gleich vorne rechts liegen zwei frisch Verstorbene auf Stahltischen. Ihre Körper werden hier haltbar gemacht.

„Stunden habe ich mich beim ersten Mal überwinden müssen“, erinnert sich Peter Kischel beim Gang durch den Keller. Jetzt sei es eine Arbeit wie andere auch. Kischel, ein stattlicher Mann mit Schnauzbart, ist einer der Präparatoren. Sie fertigen Lehrpräparate an und konservieren die Leichen der Körperspender, jener Menschen, die ihren Leichnam der Anatomie zur Verfügung gestellt haben. Früher war Kischel Kaufmann. Durch Zufall ist er zu seinem jetzigen Job gekommen.

Genießen – genießen sollten sie ihr Leben, sage er immer zu seinen Kindern. „Manchmal frage ich mich“, fügt Kischel hinzu, „ warum machen wir uns eigentlich gegenseitig immer fertig?“ Schließlich mache doch jeder am Ende die Augen zu.

Zwei bis drei Tage werden die Blutgefäße der Verstorbenen mit einem Gemisch aus Wasser, Alkohol und Formalin durchgespült – bis sich die Körper vollgesogen haben. Dann ruhen die Leichen in den silbern glänzenden Fächern, die hinten im Keller eine ganze Wand einnehmen. Mindestens ein halbes Jahr muß das Formalin im Gewebe einwirken, um es dauerhaft zu konservieren – „je länger, desto besser“, wie Kischels Kollege Heinz-Peter Ewald meint. Leiche 131/99 lag mehr als ein Jahr in den Fächern.

Ewald ist etwas kleiner als Kischel und trägt eine Brille. „ Als ich hier angefangen habe“, erzählt Ewald, „hat mir meine Frau eine Bedingung gestellt.“ Es mache ihr nichts, daß er in der Anatomie arbeite, habe sie gesagt – solange er nicht danach rieche. Ewald roch nie danach.

In zwei kleinen Räumen in einem versteckten Winkel des Kellers stehen große Stahltrommeln. Darin werden Knochen mit Waschlauge und Leichtbenzin gereinigt, um sie als Lehrpräparate zu verwenden – Knochen von jenen Körperspendern, die keine Beisetzung wünschen und ihren Leichnam dauerhaft zur Verfügung stellen. Manche der Dauerspender werden auch tiefgefroren. Dann lassen sie sich mit der Bandsäge im mittleren Raum in Scheiben schneiden. Oben im Saal können die Studenten die Scheiben auf Holzbrettern betrachten.

„Wir schlachten hier einen wehrlosen Menschen aus“, ist Miriam erschreckt, als Reinhart Gossrau die Bauchhöhle von 131/99 aufschneidet und mit den Händen weit öffnet. Die 21jährige hatte sich schon an die Arbeit gewöhnt. Jetzt wendet sie sich ab. Und schaut dann doch in den klaffenden Bauch. „Sieht das bei mir auch so aus?“, wundert sich Miriam und ist fasziniert zugleich. Sie schaut in sich selbst hinein. Von manchem, was sich in der tiefen Bauchhöhle zeigt, habe sie vor kurzem überhaupt erst gelesen, sagt Miriam. Vom großen Netz zum Beispiel, einer Art Gewebevorhang, der sich schützend vor die Eingeweide legt.

Es ist Mitte November. Mit den oberflächlichen Schichten von 131/99 sind die Studenten seit Wochen vertraut. Jetzt dringen sie in die Tiefe vor. Der meterlange, glänzende Darmschlauch schlängelt sich im Bauch der Frau. Schaut man hinein, sieht man oben links die mächtige, fast dreieckige Leber. Dahinter versteckt sich die Gallenblase wie ein kleiner grünlicher Tabaksbeutel.

„Als ich die vielen Organe betrachtet habe“, sagt Marcin, „ habe ich mich gewundert, daß das alles überhaupt funktioniert.“ Einerseits erscheine das Innere des Körpers so vollkommen, andererseits so verletzlich. Warum gibt es überhaupt so viele gesunde Menschen?„Dann dachte ich, irgendwann könntest auch du hier liegen.“

Und danach?

Es ist seltsam, aber manche im Saal läßt der Gedanke nicht los: Die Toten schauen zu. Die Seelen der Toten, die nur ihren Körper verlassen haben und die Arbeit am Tisch beobachten – die aber auch zurückkommen können, um sich zu rächen. „Ich bin bei Nacht allein im Präpariersaal gewesen“, hat eine Studentin geträumt. Plötzlich seien die Leichen aufgestanden und hätten sie bedroht. So, als wollten sie getanes Unrecht vergelten.

„Es geht ja nicht anders“, betont Renate Graf. Um in ihn hineinzuschauen, müsse man den Körper doch aufschneiden. Die Anatomie-Professorin mit den kurzen grauen Haaren leitet den „ Bereich freiwillige Körperspende“. Auf dem Schreibtisch in ihrem Büro steht ein Foto von dem Urnenfeld, wo die verbrannten Reste der Körperspender beigesetzt werden. Warum die Menschen überhaupt spenden wollen? Nicht nur, weil sie der Medizin einen Dienst erweisen möchten, sagt Graf. Sie kommen auch, weil sie es aus ihrer Familie kennen. Weil sie alleinstehend sind oder die Beerdigungskosten sparen möchten. Manche der Spender – die jüngste ist 23 – scheuen auch vor dem Beerdigungsritus zurück. Sprechen von „Begräbnispomp“. Den möchten sie vermeiden und ziehen den Seziersaal vor. „Die meisten Leute sagen, daß sie wissen, worum es geht“, erzählt Graf. Doch in den Saal gehen und schauen wollten nur wenige.

Rund 100 Leichen brauchen allein die beiden Berliner Universitäten jedes Jahr, schätzt Graf. Früher seien den anatomischen Instituten Fürsorgeempfänger nach ihrem Tod angeboten worden. Seziert wurde, wer arm war. Erst allmählich in den sechziger Jahren – in Ostdeutschland erst nach dem Mauerfall – habe man diese Praxis aufgegeben. Anatomen begannen für die freiwillige Körperspende zu werben.

Und sie selbst? „Nein, ich wollte es niemals“, gesteht Graf. Seit langem grübele sie über den Grund dafür nach. Zunächst habe sie geglaubt, nicht bei Kollegen im Saal liegen zu wollen. Graf – die immer noch beim ersten Schnitt in die Leichenhaut innehält, als ob sie jemandem Schmerzen zufügen würde – schreckt auch davor zurück, „nackt und bloß den Studenten ausgesetzt zu sein“, wie sie sagt. „Aber vielleicht scheue ich in Wirklichkeit die Vorstellung, in Teile zergliedert zu werden.“

Im Dezember sind die Brust und der Bauch von 131/99 fast leer. Die Leber, die Lungen, das Herz sind herausgenommen worden und liegen in einem großen, numerierten Plastikeimer. Die tiefen blanken Körperhöhlen erinnern an zwei Stockwerke eines unbewohnten Gebäudes – der Körper ist kein Ganzes, er besteht aus Etagen, aus Teilen. Und hier wird er in seine Teile zerlegt.

Zwischen Brust und Bauch wölben sich die beiden bläulichen Kuppeln des Zwerchfells. Vom ersten Schrei des Neugeborenen an senkt sich diese Muskelplatte bei jedem Atemzug nach unten, um Luft in die Lunge zu saugen. In der Mitte der Brusthöhle sind noch die Luftröhre, Blutgefäße und Nerven zu sehen, die von oben nach unten laufen wie Kabel in einem Stromkasten. Die durchtrennte Hauptschlagader, durch die beim Lebenden fünf Liter Blut in der Minute strömen, gleicht bei 131/99 jetzt einer gähnenden Röhre.

„Woran die Frau gestorben ist, haben wir nicht herausbekommen“ , sagt Funda. Die Gebärmutter und die Eierstöcke hätten gefehlt, aber die würden ja häufig entfernt. „Vielleicht war es doch eine Herzkrankheit“, überlegt die 25jährige. Das Herz eines gesunden Menschen ist etwa so groß wie seine Faust. Doch das Herz von 131/99 sei viel größer gewesen. Und dann haben sie den Schrittmacher gefunden. Rechts unterhalb des Schlüsselbeins lag er unter der Haut wie eine kleine silberne Taschenuhr.

Eigentlich sollte es noch vor Weihnachten geschehen. Doch dann wird erst im Januar der letzte, der größte Schritt getan. „Ich habe Ehrfurcht vor dem Gehirn“, sagt Reinhart Gossrau. Gemeinsam mit den Präparatoren hat er die Schädel der 14 Leichen mit kleinen Kreissägen geöffnet. Die schützende Hirnhaut schimmert wie Perlmutt. Als sie entfernt wird, liegt das Gehirn mit seinen Dutzenden Windungen wie eine Walnuß im harten Schädel.

„Beim Gehirn denke ich an die Individualität, an die Liebe“, sagt Gossrau. Mit sicheren Händen hebt er das Hirn von 131/99 vorn etwas an, durchtrennt die Hirnhautsichel, den Sehnerven, den Hirnstamm und hebelt die drei Pfund heraus. Behutsam läßt er das Organ in einen eigenen Eimer gleiten. „Wenn wir weiterleben“, überlegt Gossrau, „dann wahrscheinlich doch nur in der Erinnerung der anderen.“ Den Kern des Menschen? Nein, den habe er mit der Anatomie nie finden wollen.

Wie in einem kubistischen Bild liegt 131/99 jetzt verdreht auf dem Tisch. Die Präparatoren haben den Unterleib abgesägt. Nun folgt der Kopf. Neben dem Rumpf findet sich wie beiläufig ein Arm. Nur die Breite des Beckens, die Zartheit der Glieder, die wohlgeformten Muskeln erinnern noch vage an die Individualität dieses Körpers. Das Gesicht ohne Haut dagegen gleicht einer Maske.

Die Studenten waren enttäuscht gewesen, bei der Öffnung des Schädels nicht dabei sein zu dürfen. Doch jetzt, am vorletzten Tag des Kurses, an dem fast alle Leichenteile in den Eimern und Wannen verschwunden sind, liegt das Gehirn von 131/99 auf einem Holzbrett in der Mitte von Tisch 12. „Das schönste Hirn im Saal“, berichten die Acht nicht ohne Stolz. Als er das halbkugelige Organ in der Hand gehalten habe, „das war ein schönes, ein mächtiges Gefühl“, erzählt Dennis. Das ganze Wissen, die Persönlichkeit der Frau, „den ganzen Menschen habe ich noch gespürt“.

Mit einem breiten Messer wird das Hirn in Scheiben geschnitten. Man sieht, daß die graue Rinde das weiße Mark wie eine kurvige Küstenstraße umrundet. Eigenartig, wie in dieser glibberigen Masse ein Bewußtsein entstehen soll.

Dankbar sei er, all das erlebt zu haben, sagt Marcin. „Der erste Tag und heute, das ist wie ein Alpha und Omega.“ Er erinnert sich noch an die starken Gefühle zu Anfang, „als wir die Haut abgezogen haben“. Doch das Wissen über den Körper ist jetzt stärker als das Bild der Frau.

Neben dem Gehirn liegt nur noch der halbierte Schädel. Die schönen Zähne sind zerbröckelt.

„Das haben wir getan?“, ist Vediye betroffen, als sie die Fotos aus diesen Monaten betrachtet. Von einem Menschen hätten sie Besitz ergriffen, ihn wie einen Gegenstand auseinandergenommen, ihm etwas geraubt. Kaum ist noch vorstellbar, wie alles war im Oktober. Die Ängste, der Ekel, das Gesicht von 131/99. Auch sie selbst habe sich verändert, sagt Vediye. Erst jetzt begreife sie, wie wertvoll ihr eigener Körper sei.

Bei der Gedenkfeier im Februar sind alle Studenten da, auch die Angehörigen von einigen Toten. Die Studenten halten Ansprachen, machen Musik, zünden Kerzen an. Sie bedanken sich bei den Angehörigen. Zum Schluß der Feier klatschen alle stürmisch. Als dächten alle dasselbe: Man ist die Leichen los.

Als die hellen Kiefernsärge geliefert werden, ist die Geschäftigkeit aus dem Seziersaal verschwunden, und sonniges Licht dringt herein. Auf den Edelstahltischen liegen die zusammengesunkenen Körper. Mit ganzer Wucht verströmen die Leichenreste noch einmal ihren beißenden Geruch. Bald werden sie aufhören zu existieren, die Papiere fürs Krematorium sind bereits ausgefertigt. Auf dem Begleitschein für 131/99 steht das Geburtsdatum der Frau – erstaunlich, sie war nicht 60, nicht 70. Sie war 90. Durch das Datum scheint es plötzlich, als bekäme dieser anonyme Körper seine Geschichte zurück.

Die Präparatoren reißen die Plastikmarken von den Gliedern. Dann legen sie die Teile von 131/99 in den Sarg, werfen Holzspäne darüber, um dadurch die Feuchtigkeit aufzusaugen, und schließen den Deckel. 90, dann hat die Frau noch den Ersten Weltkrieg erlebt, als kleines Mädchen.

Mit schnellen Hammerschlägen treibt einer der Präparatoren die Sargnägel ins Holz.

Draußen vor den Fenstern beginnt der Frühling.

Martin Lindner

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