Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Der gläserne Wurm

Allgemein

Der gläserne Wurm
Ein simpler Wurm ist das am besten erforschte Tier der Welt. Genetisch ähnelt er dem Menschen so sehr, daß man mit seiner Hilfe die Rätsel um Alzheimer und Krebs lösen will. Jetzt wurde die Wurmforschung preisgekrönt.

Ja, wo kriechen sie denn, die neuen Stars der molekularen Biologie? In der Kulturschale ist mit bloßem Auge nichts zu sehen. Erst das Mikroskop enttarnt die Hundertschaften winziger Würmer, kleiner als Wimpern. Mal vorwärts, dann wieder rückwärts schlängeln sich die Kriechtiere durch ihre Lieblingsspeise: Bakterien. Gierig stopfen die Würmer sich voll, kauen und verdauen. Man kann es genau beobachten, denn die Tiere sind vollkommen durchsichtig. „Caenorhabditis elegans“ heißen diese nur einen Millimeter langen Geschöpfe, die sich dem Betrachter so offenherzig darbieten. Sie gehören zu den Fadenwürmern. Tausende davon winden sich in jeder Handvoll heimischen Waldbodens, Komposts oder Gartenerde. In ihrer natürlichen Heimat leben die harmlosen Wichte völlig unbeachtet. Ihre Karriere begann erst, nachdem die Molekularbiologen sie in ihre Labors geholt hatten.

Heute sind sie höchst begehrte Forschungsobjekte. Denn stellvertretend für alle anderen Tiere und für den Menschen wollen die Forscher ihre Lebensvorgänge bis ins Detail verstehen lernen. Das ist bei C. elegans – wie die Forscher den umständlichen Namen meist abkürzen – einfacher als bei jedem anderen Tier: Der Wurm besteht nur aus exakt 959 Zellen. Die Tiere sind also extrem einfach gebaut. Aber dennoch findet man bei ihnen fast alle Lebensvorgänge und Organe, die auch Menschen haben. Haut, Nerven, Darm, Muskeln, Fortpflanzungsorgane – das alles hat der Wurm, aber eben nur im Miniaturformat. Mindestens 2500 Wissenschaftler auf der ganzen Welt arbeiten heute mit Caenorhabditis. Als gäbe es keine Regenwürmer, Wattwürmer, Bandwürmer und Ohrwürmer, nennen sie ihr Labortier schlicht „den Wurm“. Zur Gemeinschaft der Wurmologen gehört Prof. Ralf Baumeister vom Gen-Zentrum in München-Martinsried. Seit fast zehn Jahren erforscht er C. elegans.

„Inzwischen kennen wir Herkunft, Lebenslauf und Funktion von jeder einzelnen der 959 Körperzellen von Caenorhabditis“, erklärt Baumeister. „So sind beispielsweise alle Darm- und Keimbahnzellen Klone einer einzigen Stammzelle. Jedes Tier hat genau 302 Nervenzellen, und wir wissen, mit welchen es riecht, Berührungen empfindet oder Hitze registriert. Wir können sogar den Schaltplan sämtlicher Nervenzellen aufzeichnen, inklusive der Synapsen, über die die Zellen miteinander kommunizieren.“ Trotz ihrer Schlichtheit können die Tiere eine Form der Alzheimer-Krankheit bekommen. Kanadische und US-amerikanische Forscher haben Mitte der neunziger Jahre herausgefunden, daß defekte Presinilin-Gene beim Menschen die erbliche Form von Alzheimer auslösen. Auch der Wurm hat Presinilin-Gene. Sind die defekt, klappt die Eiablage nicht mehr.

Wenn man den Wurm-Mutanten intakte menschliche Presinilin-Gene einpflanzt, können sie wieder Eier legen. Die Gene in Wurm und Mensch übernehmen offensichtlich die gleichen Funktionen. Aber welche? Baumeister und seine Kollegen fanden heraus: Die Proteine, die nach der Bauanleitung dieser Gene produziert werden, sind molekulare Scheren. Sie aktivieren durch gezielte Schnitte andere Proteine, die quasi verpackt in Wartestellung verharren. Diese Aufgabe ist lebenswichtig – ohne Presiniline können weder Mensch noch Wurm existieren. Doch die Scheren-Moleküle lassen auch, sozusagen als biologische Nebenwirkung, im menschlichen Gehirn winzige Zeitbomben entstehen: die Beta-Amyloid-Peptide (BAP). Diese kleinen Moleküle lagern sich in den Nervenzellen des Gehirns ab und leiten dadurch deren Sterben ein. Beim gesunden Menschen ist dies ein langsamer Prozeß – erst mit 70 oder 80 Jahren hat sich bei ihm so viel BAP angesammelt, daß der Nervenverlust die geistigen Fähigkeiten beeinträchtigen kann.

Anzeige

Die erbliche Form der Alzheimer-Krankheit hingegen bricht schon im Alter von 20 oder 30 Jahren aus. Die Ursache sind Mutationen in den Genen – mit Folgen für die Aktivität der Presinilin-Scheren: Die Nervenzellen werden hier in kurzer Zeit durch eine Flut von BAP-Molekülen lahmgelegt, die Patienten verlieren ihr Gedächtnis. Dasselbe geschieht auch bei den Würmern, fanden Baumeister und seine Kollegen mit Hilfe von Konditionierungsversuchen heraus: Die Presinilin-Mutanten verlieren ihr Temperaturgedächtnis. Unter dem Mikroskop läßt sich das direkt beobachten: Gesunde Tiere kriechen in den Kulturschalen genau zu der Stelle, deren Temperatur sie durch vorherige Konditionierung mit Futter verbinden. Die Presinilin-Mutanten hingegen sind völlig orientierungslos. „ Bislang wußte man nicht einmal, daß C. elegans überhaupt ein Gedächtnis hat“, kommentiert Baumeister diesen Erkenntnisgewinn. Mit intakten Presinilinen konnten die Forscher den Alzheimer-Würmern ihr Gedächtnis zurückgeben. Wenn dies bei Würmern gelingt – warum sollte sich nicht auch das Gehirn eines Alzheimer-Patienten heilen lassen?

Noch fehlen dazu die richtigen Medikamente. Die senilen Fadenwürmer mit den ungelegten Eiern dienen bei der Suche nach geeigneten Wirkstoffen als lebende Wirksamkeitsbeweise. Mit einer erfolgreichen Eiablage zeigt der Wurm, welche Substanz in der Lage ist, die Wirkung der defekten Presinilin-Gene zu kompensieren. Diese Erkenntnisse will Baumeister nun vermarkten. Vor zwei Jahren gründete er mit Kollegen die Firma EleGene in Martinsried. Hier läuft seit April 2001 die Suche nach einem Anti-Alzheimer-Wirkstoff. Aber auch sonst dreht sich alles um den Wurm. Bei EleGene entstehen beispielsweise neue Wurm-Mutanten als Modelle für die medizinische Forschung. Der neueste Wurm-Star am Forschungshimmel erkrankt sogar an erblicher Parkinsonscher Krankheit. „Das einzige derartige Parkinson-Tiermodell bisher“, betont Baumeister. Für seine Wurmforschung wurde er kürzlich mit dem Philip-Morris-Forschungspreis ausgezeichnet. Eine Auszeichnung, die er bescheiden kommentiert: „Auch wenn der Preis an den Forscher geht, möchte ich ihn gerne als Anerkennung für den winzigen Caenorhabditis elegans verstehen – den gläsernen Wurm, den der große Bruder ganz und gar in seinen Dienst gestellt hat.“

bdw community INTERNET Eine Einführung für Nicht-Fachleute: http://www.biotech.missouri.edu/Dauer-World/ Wormintro.html

Aktuelle Forschung auf dem Wurm-Server: http://www.elegans.swmed.edu/

Ralf Baumeister und seine Arbeit: http://www.lmb.uni-muenchen.de/groups/bmeister/rbindex.html

Unter der Rubrik „bdw-community“ auf www.wissenschaft.de/ erleben Sie einen Film mit lebenden Würmern und ein besonderes Hör-Erlebnis: Der Biologe und Komponist Dr. Jörg Schäffer vertonte die Entwicklung von C. elegans.

Karin Hollricher

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

Ther|mo|schal|ter  〈m. 3〉 elektrischer Schalter mit einer temperaturabhängigen Schalterstellung

Grund|flä|chen|zahl  〈f. 20; Bauw.〉 Maß für die Baunutzung, derjenige Flächenanteil eines Baugrundstücks, der überbaut werden darf

Grenz|be|reich  〈m. 1〉 1 Bereich, in dem eine Grenze verläuft, Grenzgebiet 2 Bereich, der die äußerste Grenze von etwas kennzeichnet … mehr

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige