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Der kosmische Code

Allgemein

Der kosmische Code
Naturgesetze im Fokus: Warum das Universum so ist, wie es ist

„Mir ist bis heute kein auch noch so kompliziertes Problem begegnet, das nicht, richtig betrachtet, noch komplizierter wurde“ , lautet ein treffendes Bonmot des amerikanischen Schriftstellers Poul Anderson. Es könnte kaum besser passen als zum Thema Naturgesetze. Und das ist paradox. Denn mit den Naturgesetzen versuchen sich die Wissenschaftler das Leben beträchtlich einfacher zu machen, indem sie eine Ordnung in der verwirrenden Vielfalt und Komplexität der Erscheinungen suchen. Wer sucht, der findet – oder erfindet. Und das mit Erfolg.

Ohne die Naturgesetze wäre nichts um uns herum so, wie es ist. Nicht nur, weil das Getriebe des Universums dann völlig anders oder gar nicht laufen würde, sondern ganz praktisch betrachtet: Die Technik, die uns alltäglich umgibt – vom elektrischen Licht über den Computer bis zum Satelliten-Fernsehen – wäre ohne die Naturgesetze und die damit verbundenen Theorien der Wissenschaften ein Ding der Unmöglichkeit. Ohne die Maxwell’schen Gleichungen der Elektrodynamik hätten wir weder Radio- noch Röntgengeräte, ohne Albert Einsteins Relativitätstheorie weder GPS noch Satelliten-Wetterbilder, und ohne die Schrödinger- und Dirac-Gleichung in der Quantenmechanik weder CD-Spieler noch Kernspin- und Positronen-Emissions-Tomographie zur Diagnose von Erkrankungen und zur Abbildung von Hirnaktivitäten.

Die Suche nach Naturgesetzen ist deshalb die vornehmste und auch vornehmlichste Aufgabe der Naturwissenschaft – das Aufdecken von Mustern, Gesetz- und Regelmäßigkeiten, die das Naturgeschehen mit all den vielen verschiedenen Einzelphänomenen zeigt. Dass dies überhaupt möglich ist und nicht überall wirres Chaos herrscht, erscheint uns so selbstverständlich, dass wir gar nicht bemerken, wie erstaunlich es eigentlich ist. Und das, obwohl die „ Ordnung“ der Dinge – als Begriff – seit Jahrtausenden für die Welt als Ganzes steht: „Kosmos“.

Immerhin: „Für unser Erkennen und Verstehen der Welt haben Naturgesetze eine herausragende Rolle“, betont Gerhard Vollmer, Philosophie-Professor an der Technischen Universität Braunschweig. „Fortschritte in der Wissenschaft gehen oft eng mit der Formulierung neuer Naturgesetze und Theorien einher.“ Mindestens das Folgende können sie leisten – und darin liegt auch ein Erfolgsgeheimnis der modernen Naturwissenschaft:

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allgemeine Anwendbarkeit durch den hohen Informationsgehalt als Allaussagen (im Gegensatz zu umständlichen, situationsspezifischen Einzelaussagen mit unzähligen Ausnahmen),

sparsame, redundanzfreie Beschreibung von Erfahrungen,

Systematisierung von Beobachtungen,

Erklärung der Erscheinungen,

Prognose künftiger Entwicklungen,

Verständnis unseres Lebensraums (Weltorientierung),

Einbettung in Theorien, die allesamt die zuvor angeführten Punkte ebenfalls erfüllen.

Eine Geschichte der Naturgesetze

Im Weltbild der Mythen unterliegen die Naturvorgänge intelligenten, geplanten, moralischen Ordnungen, werden von Schicksalsgöttern überwacht und bisweilen auch als Bestrafung eingesetzt. Heute wird das als eine Übertragung von Handlungsmaximen oder Herrschaftsvorstellungen des Menschen auf die Natur interpretiert. Umgekehrt wurden später auch moralische Gebote und politisch-soziale Verhältnisse danach beurteilt, ob sie mit dem „Naturrecht“ in Einklang standen.

In der Antike war noch nicht von Naturgesetzen die Rede, sondern von Notwendigkeit, „Themis“ (Brauch, Gesetz, Recht), „ Dike“ (Sitte, Gerechtigkeit, Strafe) und „Heimarmene“ (Vorsehung) sowie dem „Logos“ (einer der Welt innewohnenden Vernunft). Nur drei physikalische Sätze waren damals explizit bekannt: das Hebelgesetz, das optische Gesetz der Reflexion und das hydrodynamische Gesetz des Auftriebs. Aber weder Archimedes noch andere nannten sie Naturgesetze. Stattdessen sprach man in Anlehnung an die Mathematik von Prinzipien, Axiomen oder Theoremen. Das war selbst zu Zeiten Galileo Galileis noch so. Doch schon in der jüdisch-christlichen Tradition und in der Philosophie der Stoa tauchte der Begriff „Naturgesetz“ auf, aber nicht in der heutigen Bedeutung. Vielmehr musste die Natur Gottes Willen gehorchen, der sie geschaffen hatte. Der Kirchenvater Augustinus sprach von Naturgesetzen als den Gewohnheiten göttlichen Handelns – betonte allerdings, dass sie „zugunsten besonderer Zwecke jeden Augenblick verlassen werden können“ (etwa bei Wundern). Giordano Bruno interpretierte sie als Anlage der Dinge im Geist Gottes und Gottfried Wilhelm Leibniz als der unwandelbare Wille Gottes. Während im Mittelalter strikte Naturgesetze noch als unzulässige Einschränkung von Gottes Allmacht galten, waren sie im 17. Jahrhundert ein Beweis für die Schönheit und Harmonie seiner Schöpfung.

Von Naturgesetzen im modernen Sinn sprach erstmals René Descartes. Bedeutende Vorläufer waren Leonardo da Vinci und Johannes Kepler, aber im ausgehenden Mittelalter auch schon der Bischof und Allround-Wissenschaftler Nicolaus von Oresme sowie Thomas Bradwardine, ein Erzbischof von Canterbury. „Wie Galilei übernahm Descartes die Grundvorstellung seiner physikalischen Regelmäßigkeiten und der quantitativen Regeln operativer Handlungen von den Handwerkern seiner Zeit. Und aus der Bibel nahm er die Vorstellung von der göttlichen Gesetzgebung. Die Verbindung beider schuf den Begriff des modernen Naturgesetzes“, schrieb der Historiker Zilsel in seinem Buch „Der soziale Ursprung der neuzeitlichen Wissenschaft“ (1976). Es kam zur Vereinigung dreier Traditionen:

Der aristotelisch-christlichen zufolge hat der Weltschöpfer eine gesetzmäßige Ordnung erlassen, die zwingend oder unumstößlich gilt (Wunder-Ausnahmen bestätigen die Regel).

Der pythagoreisch-platonischen zufolge liegen mathematische, harmonische Proportionen dem Aufbau der natürlichen Ordnung zugrunde; daher stammt auch der heute noch wichtige Gesichtspunkt der Einfachheit.

Die technischen Regeln der Handwerker und Ingenieure schufen die interventionistische Strategie der Naturbeherrschung – vom Flaschenzug bis zum Teilchenbeschleuniger. Technik war nicht länger ein „Überlisten der Natur“ wie in der Antike (wo die Mechanik der Naturlehre untergeordnet war), bei dem es galt, den Widerstand gegen das angeblich den Dingen naturgemäße Verhalten zu brechen, wie Aristoteles glaubte. Vielmehr muss sich die Technik den Naturgesetzen beugen und sie aus dieser Unterordnung heraus nutzbar machen, das heißt anwenden und sie für sich arbeiten lassen. „Die Natur nämlich lässt sich nur durch Gehorsam bändigen; was bei der Betrachtung als Ursache erfasst ist, dient bei der Ausführung als Regel“, hat es der englische Philosoph Francis Bacon in seinem Buch „Neues Organ der Wissenschaften“ (1620) formuliert. Mit den Bewegungsgesetzen von Isaac Newton hatte die Physik dann ihre bis heute übliche paradigmatische Form erreicht: die Unterscheidung von Naturgesetzen einerseits und Anfangs- oder Randbedingungen andererseits.

Aber schon bald nahm die Geschichte mit dem Königsberger Philosophen Immanuel Kant eine originelle Wendung. In seiner „ Kritik der reinen Vernunft“ sah er den Forscher selbst als Gesetzgeber der Natur und dessen Verstand als „Quell der Gesetze der Natur“: „Der Verstand schöpft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor.“ Kant stellte das „ unaufgeklärte“ Alltagsdenken gleichsam von den Füßen auf den Kopf und argumentierte, die Kategorien und Anschauungsformen des Verstandes seien die Bedingungen für die Möglichkeit von Erfahrung – und somit auch für die Erkenntnis der Gesetze. Der Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker hat diesen Ansatz in unserem Jahrhundert wieder aufgegriffen und versucht, die Quantenphysik auf Grundsätze zu stellen, die nichts als die Bedingungen der Möglichkeit physikalischer Empirie erklären. Viele Physiker und Philosophen sind dem aber nicht gefolgt.

Streit um die Naturgesetze

Über das Wesen oder den Status von Naturgesetzen und die Theorien, in die sie eingebettet sind, streiten sich Philosophen und Wissenschaftler seit Jahrhunderten. Ob es jemals einen Konsens geben wird, ist fraglich. Denn auch hier gilt das Wort des Philosophen Johann Gottlieb Fichte: „Was für eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was man für ein Mensch ist.“ Das macht das Thema einerseits schwierig, kompliziert und verwirrend, legt aber andererseits auch die spannenden Rätsel und Abgründe dahinter offen. Denn es geht nicht um akademische Wortspielchen und Begriffs-Elfenbeintürme, sondern um nichts mehr oder weniger als die Natur der Wirklichkeit und unsere Stellung darin.

„Es gibt keine Theorie der Naturgesetze, die nicht kontrovers ist. Alle haben Schwierigkeiten“, sagt der amerikanische Philosoph Clifford A. Hooker. „So schnell, wie wir die Geheimnisse der Natur wissenschaftlich entwirren, so schnell wird die Natur unseres Verstehens selbst geheimnisvoll.“

Merkmale von Naturgesetzen

Auch Gerhard Vollmer macht keinen Hehl aus der schwierigen Situation: „Was ein Naturgesetz ist, kann nicht als abschließend geklärt gelten.“ Immerhin sind einige wesentliche Merkmale der Naturgesetze unstrittig:

Als Allaussagen gelten sie generell und universell.

Als Bedingungssätze machen sie Wenn-Dann-Aussagen.

Als relationale Beziehungen formulieren sie Zusammenhänge zwischen zwei oder mehr Größen: quantitativ als Gleichungen (wie beim Gravitationsgesetz), als Ungleichungen (wie im Entropie-Satz, wonach die Unordnung eines Systems nur konstant bleiben oder größer werden kann) oder vielleicht auch nur qualitativ (wie in den Mendel’schen Regeln der Vererbung).

Als so genannte synthetische Sätze sind sie empirisch zu finden und nicht wie analytische Sätze aus Definitionen oder logischen Prämissen ableitbar. Daher können synthetische Sätze auch falsch sein (wie „Alle Junggesellen sind verschroben“ im Gegensatz zu „Alle Junggesellen sind unverheiratet“).

Schließlich müssen Naturgesetze als wahr akzeptierbar sein, auch wenn sich ihre Wahrheit im strengen Sinn nicht beweisen lässt – alles naturwissenschaftliche Wissen ist bekanntlich fehlbar, revidierbar und somit vorläufig.

So weit, so gut. Doch die Fragen und Schwierigkeiten fangen erst an: Ein Problem besteht in der Idealisierung. Viele Faktoren werden in der Praxis ja vernachlässigt, zum Beispiel Reibung oder Luftwiderstand, und insofern lassen sich Naturgesetze in Aktion – gleichsam in Reinform – nur selten oder unter extrem artifiziellen Bedingungen beobachten. Auch die Frage der Allgemeinheit stellt sich. Galileis berühmtes Fallgesetz, wonach frei fallende Körper mit 9,8 Metern pro Sekunde im Quadrat schneller werden, gilt so nur auf der Erde. Und wie halten wir es mit Gesetzen für „Unikate“, etwa für das ganze Universum? Wie mit den Gesetzen der Wissenschaften, die weniger allgemein sind als die Physik, beispielsweise der Biologie? Sind statistische Gesetze zulässig und so etwas wie „Ausnahme-Genehmigungen“? Und weiter: Müssen Naturgesetze immer quantitativ formuliert sein? Lassen sie sich einzeln überhaupt widerlegen, wenn sie in eine Theorie integriert sind? Gibt es nicht weiter zurückführbare Grundgesetze, auf denen alle anderen basieren, und kann man das überhaupt beweisen?

Der Streit reicht noch tiefer. Und das wird bei der Betrachtung der folgenden Merkmale von Naturgesetzen deutlich, über die weitgehend Einigkeit besteht:

Naturgesetze sind faktische Wahrheiten (etwa die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit) im Gegensatz zu logischen (Beispiel: „Zu jeder Zahl gibt es eine doppelt so große Zahl“).

Sie sind zu jeder Zeit und an jedem Ort wahr – und nicht nur auf der Erde oder im 18. Jahrhundert.

Sie enthalten keine Eigennamen wie „Stuttgart“ , „bild der wissenschaft“ oder „6. April 2016″, sondern nur allgemeine Begriffe wie „Masse“ und „Geschwindigkeit“.

Sie sind universelle oder statistische Aussagen wie „reines Kupfer leitet Strom“ oder „Plutonium-239 hat eine Halbwertszeit von 24000 Jahren“ im Gegensatz zu – obwohl wahr – „Sterne existieren“.

Sie sind konditionale („wenn – dann“), nicht kategorische Aussagen (wie, nochmals, „Sterne existieren“). Alle physikalischen Gleichungen lassen sich als konditionale Aussagen interpretieren.

Konsens besteht darin, dass diese Merkmale alle notwendig sind. Der Streit geht darum, ob sie auch hinreichen.

Die Kontrahenten

Die Anhänger der Regularitätsthese der Naturgesetze bejahen dies. Ihnen zufolge sind Naturgesetze Aussagen über Regelmäßigkeiten in der Welt, also eine Beschreibung, wie die Welt ist und wie sie sich verhält. Für die Regularitätsthese spricht, dass unsere Alltagserklärungen weder Allgemeinheit noch Notwendigkeit benötigen. Schon Gewohnheiten der Erfahrung genügen oft. Auch „erzwingen“ oder „verursachen“ Gesetze eigentlich nichts, denn sie sind keine Handelnden oder materiellen Kausalkräfte. Zudem braucht die wissenschaftliche Praxis keine Annahme einer naturgesetzlichen oder metaphysischen Notwendigkeit, zumal unklar ist, worin sich diese von logischer Notwendigkeit unterscheidet und ob sie unabhängig von Randbedingungen überhaupt definierbar ist.

Für die Anhänger der Notwendigkeitsthese der Naturgesetze reichen die genannten Merkmale hingegen nicht aus. Für sie kommt eine zusätzliche Bedingung der Notwendigkeit hinzu, wonach die Naturgesetze als Prinzipien quasi die natürlichen Phänomene regieren oder hervorbringen – das heißt, die Welt gehorcht den Naturgesetzen. Damit kommt ein modales Element ins Spiel, das bestimmt, was möglich ist. Demzufolge ist beispielsweise die Tatsache, dass alle Uran-Kugeln einen Durchmesser von weniger als zehn Kilometern haben, die Folge eines Naturgesetzes (sie können nicht entstehen, weil sie sofort als Atombombe explodieren würden), während dasselbe für Gold-Kugeln nicht gilt – obwohl wir weder die einen noch die anderen jemals beobachtet haben.

„Die Kluft zwischen den Parteien ist so groß wie häufig in der Philosophie. Keine Seite hat eine Theorie, der alle unsere geläufigen, tief verwurzelten Überzeugungen über die Natur der Welt entsprechen. Und es scheint keine Alternative zu geben“, resümiert Norman Swartz von der Simon Fraser University im kanadischen Burnaby.

Freilich hat sich die Debatte verselbstständigt, so dass unterschiedliche Akzente gesetzt werden und die Kontrahenten in verschiedenen Schattierungen auftreten oder bestimmten Fragen einfach ausweichen. Unter den Positionen im Widerstreit sind die folgenden besonders erwähnenswert:

Realisten oder Platoniker glauben als Verfechter der Notwendigkeitsthese, dass Naturgesetze unabhängig von unseren Formulierungen existieren. Sie sind so wirklich wie Stühle, wie der Physik-Nobelpreisträger Steven Weinberg schrieb und der Elementarteilchenphysiker Henning Genz im nächsten Artikel argumentiert. „Naturgesetze bedürfen nicht nur unserer Anerkennung nicht, um wahr zu sein, sie brauchen dazu nicht einmal von uns gedacht zu werden. Ein Naturgesetz wird nicht von uns ersonnen, sondern entdeckt. Und wie eine wüste Insel im Eismeer längst da war, ehe sie von Menschen gesehen wurde, so gelten auch die Gesetze der Natur und ebenso die mathematischen von jeher und nicht erst seit ihrer Entdeckung“, schrieb der Logiker Gottlob Frege schon vor Anfang des 20. Jahrhunderts. Peter Mittelstaedt favorisiert diese Meinung im bdw-Interview ebenfalls. „Man muss annehmen, dass die Gesetze der Physik existierten, ‚bevor‘ das Universum entstand“, ist auch Alexander Vilenkin überzeugt. Nur so glaubt der Kosmologie-Professor an der Tufts University in Medford, Massachusetts, erklären zu können, wie das Universum entstand (bild der wissenschaft 5/2002, „ Hawking & Co“). Diese Sichtweise steht in der Tradition Platons, der lehrte, dass die Ideen jenseits der sichtbaren Welt ebenfalls real – und sogar realer – seien als der für uns wahrnehmbare Abglanz von ihnen.

Positivisten und Nominalisten im Camp der Regularitätsthese sind davon ganz und gar nicht überzeugt. „Ich stimme nicht mit Platon überein“, sagte Stephen Hawking zu bild der wissenschaft. „ Physikalische Theorien sind nur mathematische Modelle, die wir konstruieren. Wir können nicht fragen, was die Wirklichkeit ist, denn wir haben keine modellunabhängigen Überprüfungen von dem, was real ist.“ Johann Samuel Traugott Gehler brachte es schon 1798 in seinem „Physikalischen Wörterbuch“ auf den Punkt: „ Wirklich sind in der Natur nur die einzelnen Wirkungen vorhanden, die Gesetze existieren bloß in den Ideen der Naturforscher oder in dem System der Naturlehre“. Der Physiker und Philosoph Ernst Mach, einer der Väter des Positivismus, plädierte dafür, sich mit einer möglichst einfachen mathematischen Beschreibung des empirischen Forschens zu begnügen. Seine Nachfolger hielten die Frage nach der Realität sogar für ein „Scheinproblem“. Und der Philosoph Ludwig Wittgenstein polemisierte im „Tractatus logico-philosophicus“: „Der ganzen modernen Weltanschauung liegt die Täuschung zugrunde, dass die so genannten Naturgesetze die Erklärungen der Naturerscheinungen seien.“

Pragmatiker versuchen sich aus dem Streit herauszuhalten und sehen Naturgesetze als nützliche Hilfsmittel zur Beschreibung der Phänomene und beobachtbaren Regelmäßigkeiten an, deren Realität sie nicht leugnen wollen. Aber indem sie nicht auf Notwendigkeit beharren, sind auch sie Verfechter der Regularitätsthese. „Mich interessiert das Modell, das die Beobachtungen am effizientesten erklärt“, sagt der Physiker und Kosmologe Paul Steinhardt und nennt sich in diesem Sinn einen Pragmatiker. „Ob es die Realität trifft, ist eine abstrakte Frage. Modelle sind immer Vereinfachungen. Es kommt uns auch nicht notwendig auf die Realität an. Was wir wollen, ist ein Modell, das die größtmögliche Vielfalt an komplexen Phänomenen mit der einfachsten Menge an Konzepten erfassen kann, die für das menschliche Gehirn verständlich sind und Voraussagen erlauben.“ Der Professor an der University of Princeton erklärt das seinen Studenten gerne am Beispiel der TV-Übertragung eines Football-Spiels: Will man die Handlungen der Spieler voraussagen, ist man gut beraten, sich auf die Bilder zu beziehen. Man kann aber auch ein anscheinend „realeres“ Modell heranziehen: Die Kathodenstrahlröhre im Fernseher, wo elektromagnetische Felder den Elektronenstrahl so lenken, dass verschiedene Farblichter auf dem Bildschirm aufleuchten. „Aber das ist nutzlos, wenn wir vorhersagen wollen, was im Spiel als nächstes geschieht. Welches Modell wir bevorzugen, hängt also davon ab, welche Fragen wir stellen. Realität ist nicht immer, was man möchte. Man möchte lieber einfaches Verständnis.“

Konventionalisten sind radikaler. Sie halten Naturgesetze nicht nur bloß für nützliche Setzungen des Menschen, sondern betonen die sozialen Aspekte. Im Extremfall sind Naturgesetze dann rein soziale Konstruktionen einer einflussreichen Meinungsführerschaft oder Forschermehrheit. Das führt freilich zur sonderbaren Konsequenz, dass sich die Natur gleichsam nach den Menschen richtet. Überspitzt gesagt: Ob die Sonne sich um die Erde dreht oder umgekehrt, ist dann bloß eine Laune der Geschichte.

Instrumentalisten und Konstruktivisten sehen Naturgesetze als Mittel zur Beschreibung an. Im Gegensatz zu den Realisten, für die Naturgesetze unabhängig von Menschen existieren und wahr oder falsch sein können, sind sie für die Instrumentalisten nur Werkzeuge und insofern praktisch oder unpraktisch, nicht aber wahr oder falsch. Die Konstruktivisten nehmen den Werkzeugcharakter fast wörtlich – als Vorschriften zum Bau und zur Bedienung von Apparaten und Messinstrumenten. Die Naturwissenschaft ist dann angewandte Technik, nicht umgekehrt. „ Es ist doch eine nicht aus der Welt zu schaffende Tatsache, dass unsere experimentellen Apparaturen nicht in der Natur herumliegen, sondern wir sie erst einmal bauen müssen. Uns leitet dabei das Ziel, Verläufe eines bestimmten Typs störungsfrei reproduzieren zu können“, argumentierte Holm Tetens, heute Philosophie-Professor an der Freien Universität Berlin, in seiner berühmt gewordenen Streitschrift „Was ist ein Naturgesetz?“ und äußerte die Überzeugung, „dass die generellen Sätze der Physik methodisch primär bei Apparaten gelten“. Er warf der Philosophie sogar vor, sie schlüpfe „in Gestalt der modernen Wissenschaftstheorie in die Rolle einer ideologischen Magd der etablierten Physik“. Auch Peter Janich glaubt, dass „ Naturwissenschaften letztlich nichts anderes als technisches Know-how sind“. Damit postuliert er ein Primat der Technik und bestreitet vehement, „dass man erst aus den Naturwissenschaften wissen müsste, wie die Welt ist, um in ihr erfolgreich technisch handeln zu können; vielmehr muss man erst in ihr technisch erfolgreich handeln können, um zu wissen, wie sich die Welt im Rahmen naturwissenschaftlicher Methoden zeigt“. Und dann spitzt es der streitbare Philosophie-Professor von der Universität Marburg radikal zu: „‚Naturgesetze‘ sind demnach nur Aussagen über funktionierende Maschinen, ja sie können ohne Umformulierung auch als Konstruktionsanweisungen für Maschinen gelesen werden.“

Solche Aussagen provozieren selbstverständlich die Realisten aufs Äußerste. Wie und von welchem Apparat sollte denn die Relativitätstheorie oder die Schrödinger-Gleichung erzwungen oder konstruiert sein? Sind die Planeten für ihre Bewegung um die Sonne etwa von unseren Teleskopen abhängig? Auch wird man schwerlich behaupten können, dass Laserstrahlen, Kernspaltung und fließender Strom Produkte unserer Technik sind – selbst wenn wir diese brauchen, um jene Phänomene zu beobachten.

Es gibt noch weitere, stärkere Argumente für einen Realismus – wenn nicht für die Naturgesetze selbst, dann doch für die Objekte und Prozesse, von deren Wirkungen wir sie abstrahieren: Nur eine realistische Auffassung kann gleichermaßen verständlich machen, warum Theorien als Erklärungen und Prognosen erfolgreich sind oder aber versagen. Sie beziehen sich auf einen von uns unabhängigen Gegenstand, der sich keineswegs beliebig verhält. Die Natur ist gleichsam ein unerbittlicher Richter.

„Obwohl Begriffe und Hypothesen frei erfunden werden, beobachtet man eben nicht, dass es mehrere nebeneinander existierende gleichwertige Theorien gibt.“ Tatsächlich erweist sich eine einzige als „unbedingt überlegen“, sagt Gerhard Vollmer – schränkt aber ein, dass wir die Realität freilich niemals endgültig beweisen können. Ferner konvergieren Messungen mit ganz unterschiedlichen Methoden, das heißt, sie führen häufig zu denselben Werten. Auch erfahren Physiker immer wieder die Macht von Invarianten in ihren Theorien und Beobachtungen – so lassen sich viele Prinzipien und Experimentaldaten eben nicht beliebig ändern oder interpretieren, allenfalls gewinnt man verschiedene Blickwinkel auf denselben Gegenstand. Und Vollmer führt noch ein weiteres – nun seinerseits pragmatisches oder instrumentalistisches – Argument für den Realismus an: „Rein zufällige Entdeckungen sind in der Wissenschaft selten. In der Regel finden wir Dinge nur, wenn wir danach suchen. Die Suche nach ungewöhnlichen oder neuen Dingen hat nur Sinn, wenn ihre Existenz angenommen wird.“

Ob diese Argumente für den Realismus allerdings schon ausreichen, um die Notwendigkeitsthese zu stützen, ist eine andere Frage. Und so werden die Kontroversen so schnell nicht enden. Doch das ist gar nicht so tragisch, denn im Gegensatz zu vielen fruchtlosen Debatten in Politik oder Kunstbetrachtung bringt der Streit Wissenschaft und Philosophie voran. Und wer dafür nicht die Geduld, Energie oder Zeit aufbringen will, kann es immer noch mit dem britischen Essayisten und Historiker Thomas Carlyle halten: „Ich erhebe nicht den Anspruch, das Universum zu verstehen – es ist sehr viel größer als ich.“

Mit Hilfe von Naturgesetzen beschreiben, erklären, prognostizieren und verändern wir die Welt äußerst erfolgreich.

Die Wissenschaftsgeschichte der Naturgesetze verlief sehr wechselhaft. Heute geht die große Kontroverse unter Philosophen und Physikern darum, ob und inwiefern Naturgesetze notwendig und real sind.

Was ist ein Naturgesetz?

Beim Sprechen über Naturgesetze kommen verschiedene Bedeutungen zum Ausdruck. Deren Vermischung, Verwechslung oder mangelnde Differenzierung sorgt oft für Missverständnisse. Paul Weingartner, emeritierter Philosophie-Professor an der Universität Salzburg, wird deshalb nicht müde zu betonen, dass wir unterscheiden müssen zwischen einem Naturgesetz,

wie es in den Gedanken des Entdeckers oder Erfinders ist,

wie es in den Dingen, Strukturen und Ereignissen ist, die durch es geordnet oder beschrieben werden,

als eine nomologische Aussage (Satz über ein Gesetz), ausgedrückt in wissenschaftlicher Fachsprache,

als das wahre Gesetz, dem sich die nomologischen Aussagen der Wissenschaften anzunähern versuchen,

als eine ideale, begriffliche, objektive Wesenheit, unabhängig von unseren Aussagen darüber – wie es oft auch für mathematische und logische Gesetze angenommen wird.

Die letzten beiden Bedeutungen sind jene, die besonders kontrovers diskutiert werden – einschließlich der Skepsis, ob diesen Bedeutungen überhaupt etwas in einer von uns unabhängigen Realität entspricht. Gerade hier scheiden sich die Geister seit Anbeginn der Philosophie: Existieren eherne Gesetze jenseits unserer alltäglichen Erfahrungswelt und vielleicht sogar unabhängig von Raum, Zeit, Materie und Energie? Oder sind sie lediglich unsere Beschreibungen, Abstraktionen und pragmatischen Ordnungsprinzipien, um die komplexe Natur – oder die Welt unserer Sinneserfahrungen – zu vereinfachen, zu systematisieren, zu nutzen und in bestimmten Grenzen vorauszusagen? RV

Rüdiger Vaas

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

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Ak|zi|dens  〈n.; –, –den|zi|en od. –den|ti|en〉 1 Hinzukommendes, unwesentliche Eigenschaft; oV Akzidenz ( … mehr

Kipp|schal|tung  〈f. 20; El.〉 elektr. Schaltung, die anliegende Ströme od. Spannungen sprunghaft zw. zwei verschiedenen Zuständen verändert u. z. B. zum Erzeugen von Kippschwingungen dient

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