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Der Potemkinsche Tempel

Allgemein

Der Potemkinsche Tempel
Das Apoll-Heiligtum in Didyma sollte ein Weltwunder werden: In den antiken Ostkolonien Griechenlands an der türkischen Küste wurde ein Tempel gebaut, den 122 gigantische Säulen schmücken sollten. Er sollte alles Dagewesene in den Schatten stellen, aber er wurde nie vollendet. Die Marmorsteinbrüche hat man jetzt gefunden, die Architekturpläne liegen offen, und die Buchhaltung listet jede ausgegebene Drachme auf.

Das Wetter ist am Umschlagen. Unterwellig kündigt sich an Kleinasiens Westküste der erste Herbststurm an. Hinterrücks schaukelt sich das Meer auf und kippelt den Kahn, als seien 70 Tonnen Last kleine Fische. Drei Trommeln aus massivem Marmor, 2,30 Meter im Durchmesser und fast ebenso hoch, drücken die Schaluppe tief ins Wasser. Der Spediteur flucht altgriechisch und drängt auf eine Eilzustellung. Bis zum Zielhafen liegen 30 Kilometer vor den Ruderern, der Wind drischt auf sie ein. Am Kap mit der Stadt Milet gelangen sie ins offene Mittelmeer, und da läßt es Poseidon kräftig krachen. Der Schwertransport ist für Apoll bestimmt, und der wird hoffentlich zeigen, wer hier der Stärkere ist. 2300 Herbste später. Landschaft und Glaube haben sich geändert, nicht aber das Klima. Die Wälder hat man abgeholzt. Der Bootsmann würde nun türkisch fluchen, nur sind die Wellen nicht mehr der Rede wert. Ein Fluß hat die Küste versetzt. Der Menderes, früher Mäander, füllte im Lauf der Jahrhunderte die Schlauchbucht von Milet mit Schwemmsand. Vom großen Teich ist nur ein kleiner geblieben: Der Bafa Gölü am Fuße des Latmos-Gebirges an der türkischen Mittelmeerküste. Gewichtige Bauklötze aus überwuchertem Marmor versinken im Schlick des Bafa-Sees (unten). Vom östlichen Ende der einstigen Meeresbucht wurden die Werkstücke auf die 30 Kilometer lange Seereise zur Tempelbaustelle nach Didyma geschickt. Der Marmorquader (links), vielleicht ein Türsturz, hat sein Ziel nie erreicht.

Heute wie damals ist aus heiterem Himmel der Sommer zu Ende, und Anneliese Peschlow bricht vor dem Orkan besser selbst ihre Zelte ab. Für die wissenschaftliche Saisonarbeiterin sind die schönen Tage freien Forschens vorüber, denn nun heißt es ab nach Berlin ins Deutsche Archäologische Institut. Die Dame ist ein Phänomen: Sie hat keine Grabung, keine Crew, kein Geld, und sie findet und findet … zum Beispiel prähistorische Höhlenmalerei in den Latmos-Bergen. Die Prähistoriker wollten erst ihr, dann ihren Augen nicht trauen – doch mittlerweile feiern sie Kunst und Finderin (bild der wissenschaft 9/1998, „Steinzeit-Männchen“ ). Inzwischen hat die Zentrale des Deutschen Archäologischen Instituts der findigen Dame mehrfach die Grabungsleitung in Didyma angetragen, doch Anneliese Peschlow hat dankend abgelehnt. Die klassische Archäologin will nicht graben, sie läuft lieber: „In einem alten Kulturland kann man auch viel entdek-ken, wenn man statt in die Tiefe mal in die Weite geht“, ist der Beweggrund für ihre „Surveys“. Bei dieser oberflächigen Sichtung der Vergangenheit, wo man in der Landschaft nach Menschenwerk sucht, begleitet das Glück die Forscherin: Zwischen den bemoosten Stämmen verwilderter Olivenbäume ragen aus dem Unterholz Stümpfe aus Stein – Trommeln, Sockel, Architrave, Kapitelle – alles in Riesenausmaßen. Lego für Giganten, um einen Tempel zu basteln. Die Größe läßt nur einen Schluß zu: Anneliese Peschlow ist auf Didymas Steinbruch und Säulenmanufaktur gestoßen. Dieser Tempel Apolls wäre Anwärter für ein Weltwunder, wenn er bloß fertig geworden wäre. Selbst heute noch: Säulen ohne Ende, unter denen sich Ehrfurcht einstellt und Touristen zu Pilgern schrumpfen.

Mit diesem Fund im Rücken kann die Berlinerin in Didyma das antike Gemälde weiter malen: Die Schiffsmannschaft entspannt sich den ganzen Winter, in den Hügeln über den verwaisten Kais dagegen geht die Arbeit weiter. Kalt wird es den Unermüdlichen nicht, bewegen sie doch da oben die dicken Brocken. Sisyphos läßt grüßen, und Götter helfen da wenig. Preßlufthammer, Flex und Dynamit sind Zukunftssound, denn 300 v. Chr. zerteilt man den Fels mit eigener Kraft und viel Geduld. Mit einer Spitzhacke vertiefen die Handwerker Gravuren, die Kreise oder ein Rechteck umreißen.

Zwei Meter und mehr treiben sie die Rinnen hinab, bis Zylinder oder Quader plastisch werden. Mit Keilen wird das Trumm vom Untergrund abgesprengt, und nun zeigt sich, ob es tempeltauglich ist. Marmor muß makellos sein, und besonders Apoll als Bild von einem Gott pocht auf Vollkommenheit. Einschlüsse bedeuten da Ausschuß, und ädert minderes Gestein das edle Aussehen, landet das Teil auf der Schotterhalde. Mit steigender Nachfrage sinkt allerdings der Qualitätsanspruch, und man liefert nun auch Marmor mit Mängeln übers Meer. Wird ein Block für gut befunden, nimmt sich der Meister noch einmal des Rohlings an und glättet das ganz Grobe. Sein Lohn ist der gleiche wie der seiner Kollegen, die auf der Tempelbaustelle die Säulen aufstellen und fein machen. Auch die Lehrlinge bekommen Gleiches – sie sind allesamt Sklaven und schuften allein für Brot und Kleid. Der Transportweg der Rohlinge hinab zum Wasser ist auch 2300 Jahre später kaum zu verfehlen. Unfälle von einst bringen Anneliese Peschlow auf die Spur: Stark angeschlagene Fracht zeugt von der Schußfahrt hinab ins Tal, wenn die Strickbremse versagte. Beim Abseilen über die hölzernen Rutschen ist zudem so mancher Block vom Schlitten geschossen und zerborsten. In der Ebene übernehmen wohl Ochsen die Fuhre und zerren zuweilen zu kräftig, wie weitere Bruchstücke zeigen. Auf den ehemaligen Verladesteg weist eine Reihe von Trommeln hin, die seit Jahrhunderten zum Verschiffen anstehen. Schief von der ewigen Warterei, sinken sie immer mehr in den Schlick des Bafa-Sees.

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Generationen billiger Steinmetze spalteten am Latmos die Vorberge, und weder Winter, noch ein rauheres politisches Klima hielten sie davon ab. Im 1. Jahrhundert v. Chr. wurde Anatolien römische Kolonie, doch auch die neuen Herrscher orderten mächtig Marmor. Trotz sichtlich guter Auftragslage brach 400 Jahre später jäh die Tätigkeit in den Brüchen ab. Von einer Stunde zur nächsten schmiß die Belegschaft den seinerzeit krisensicheren Job und ließ alles stehen und liegen – lag’s an den Goten, die gekommen waren? Die Steine schweigen sich gewöhnlich aus. In Didyma aber nicht: Die Bauleiter dort mußten jährlich den Verbleib jeder einzelnen Drachme rechtfertigen und hinterließen wahre Wälzer mit buchhalterischen Ergüssen zum Bau. In diesen Dunklen Jahrhunderten (1200 v. Chr. bis 800 v. Chr.) begannen die Griechen die Kolonisation auf der anderen Seite der Ägäis. Weil man auf Apolls Weissagesprüche nicht verzichten wollte, mußte auch in Kleinasien ein Orakel her. Didyma wurde zum Delphi des Ostens. Im antiken Übersee sollte alles viel größer, höher, schöner werden als in der alten Heimat. Hatte der Zeus-Paradetempel in Olympia 38 Säulen, trumpft in Didyma Apoll auf: 120 Säulen stehen hier auf dem Plan, und in den Bauberichten ist er ab 300 v. Chr. in Stein festgeschrieben. Stolze 20 Meter ist ein Pfeiler hoch und 2,30 Meter dick. Pro Jahr kann man sich nur einen leisten. Die Spenderstadt Milet muß für eine Säule 39000 Drachmen berappen, die auf die Lepta genau in den schweren Rechnungsbüchern abgerechnet sind: Ein Drittel fordert der Steinbruch ein, um die Schwerstarbeiter satt zu kriegen. Ein weiteres Drittel kostet der Transport, und das letzte geht in Naturalien an die Steinmetze Didymas fürs Aufrichten und Riffeln der Schäfte.

Daß dieses Jahrtausendwerk nie fertig wurde, freut heutige Archäologen und Bauforscher. Nirgendwo sonst können sie so genau studieren, wie Tempel entstanden. In Didyma lassen sich die antiken Architekten in die Karten gucken:Sie umrissen ihre Pläne auf den Wänden des Tempel-Innenraums, und weil diese nie den letzten Schliff bekamen, blieben die Bauzeichnungen erhalten. Säulen in allen Stadien legen Schritt für Schritt ihre Machart offen. Noch roh wurden die Trommeln aufeinandergepaßt und von oben nach unten kanneliert. Wo man den Stein noch nicht feingemacht hat, zeigt sich die Signatur eines heute unbekannten Meisters aus dem Steinbruch. Im 2. und 1. Jahrhundert v. Chr. ging der Tempelbau so schleppend voran, daß Hausherr Apoll bei seiner Orakelschwester Pythia in Delphi ein Machtwort sprechen ließ: Das beschleunigte den Bau, und bald stach die Vorderfront ins Auge. Alle fertigen Säulen versammelte man hier, auf daß die Pilger ihr weißes Wunder erlebten. Alles Schein, denn nicht einmal die Hälfte der geplanten 120 hatte man auf die Reihe gebracht, und hinten war das Heiligtum ewige Baustelle. Ein Potemkinscher Tempel, dem man auch das Dach versagte. Diesen Mangel erklärte der Geograph Strabon um die Zeitenwende mit dem fehlenden Know-how und zuwenig Material, eine derartige Fläche zu überspannen. Doch die Sklaven lieferten Marmor um Marmor an, der die Kultstätte verweltlichte. Das Baustofflager erwies sich als Segen, als im 3. Jahrhundert n. Chr. die Goten in Kleinasien einfielen. Für Barrikaden hatte man so alles zur Hand und türmte die Trommeln, Kapitelle und Architrave zu einer Wehrmauer auf. Weil zudem ein neuer, einziger Gott seinen Siegeszug im oströmischen Reich antrat, blieb der Tempel für immer verrammelt. In den Steinbrüchen am Latmos ruht noch Material für mindestens vier Säulen, also 70 Trommeln, das die späteren Kirchen- und Häuslesbauer nicht von der Stelle kriegten. Anneliese Peschlow läuft weiter durch das archäologische Hinterland. Daß der Bafa-See mit Umgebung zum Naturschutzgebiet geworden ist, paßt wunderbar ins Konzept der Archäologin. „Die Spatenforschung bringt zwangsläufig Zerstörung mit sich. Wenn man sich fürs Bewahren entscheidet, muß man viel Beinarbeit leisten.“

Waltraud Sperlich / Ulrich Schendzielorz

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