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Der Rinderwahn hält an

Allgemein

Der Rinderwahn hält an

AB NOVEMBER 2000 durfte Deutschland sich nicht mehr als „ BSE-frei“ bezeichnen. Eine Handelskette hatte freiwillig Stichproben von Rindfleisch aus ihren Schlachtereien nehmen lassen – und eine Probe fiel positiv aus. Ohne diesen Befund wäre das Fleisch auf dem Teller eines Kunden gelandet. Tags darauf verhängte der Landwirtschaftsminister ein Verbot, das er noch eine Woche zuvor strikt abgelehnt hatte: Ab sofort keine Verfütterung von Tiermehl mehr! Die Verbraucher reagierten panikartig mit Rindfleisch-Verzicht – ein paar Wochen lang. Inzwischen ist an den Fleischregalen wieder die Kauflust eingekehrt.

BSE nicht ernst zu nehmen, war und ist eines der auffälligsten Symptome der Rinderseuche. Die aktuelle Situation: In Deutschland steht der Zeiger der nach oben offenen BSE-Skala derzeit knapp vor 250 kranken Tieren. Doch obwohl wöchentlich zwei neue BSE-Fälle registriert werden, findet der Rinderwahn nur noch das Interesse der Experten. Torkelnde Tiere und Schlachtberge sind aus den Medien verschwunden. Und die Deutschen kaufen Rindfleisch, als hätte es BSE nie gegeben.

Doch die Ruhe ist trügerisch. Zwar müssen seit 2001 alle Schlachttiere in Deutschland ab einem Alter von 24 Monaten, in der EU und Großbritannien ab 30 Monaten, getestet werden. Aber viele Tiere erreichen dieses Alter gar nicht – ihr Fleisch landet vorher in der Wurst. Außerdem sind die BSE-Tests nicht empfindlich genug. Dr. Martin Groschup von der Bundesforschungsanstalt für Viruskrankheiten der Tiere auf der Ostsee-Insel Riems: „Bei jungen infizierten Tieren, die noch nicht genug krankhafte Prionen haben, schlagen die Tests nicht an. Die Infektion kann man erst kurz vor Ausbruch der Krankheit feststellen, und selbst das nur an toten Tieren.“

So halten denn auch einige britische Forscher die offiziell bestätigten BSE-Zahlen für zu niedrig: Nicht rund 180000 Tiere, sondern in Wahrheit mehr als zwei Millionen sollen bisher mit BSE infiziert sein. Fieberhaft sucht man nach empfindlicheren Tests, die auch am lebenden Tier funktionieren. Anfang 2003 werden auf Riems 50 Kälber gezielt infiziert, um die Verlässlichkeit neuer Tests zu überprüfen.

Auch heute, knapp zehn Jahre nach dem BSE-Hoch in England, weiß man erschreckend wenig über die Krankheit (bdw berichtete in den Ausgaben 7/2000 und 5/2001). Die Forscher gehen zwar davon aus, dass die Krankheit von Prionen verursacht wird – aber bewiesen ist das nicht. Ob BSE tatsächlich durch infektiöses Tiermehl ausgelöst wird, ist nur „wahrscheinlich“. Und weil Menschenversuche unmöglich sind, kann man auch nicht den Nachweis führen, dass der Genuss von BSE-infiziertem Fleisch die neue Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (vCJK) auslöst. 117 Menschen starben bis November 2002 in Großbritannien an dieser Krankheit, bei der sich das Gehirn in eine schwammige Masse verwandelt, 11 vCJK-Patienten lebten noch. Eine Therapie ist nicht in Sicht. Alle Patienten sind bisher spätestens zwei Jahre nach Krankheitsausbruch gestorben. Nur für Labormäuse gibt es neue Impfungen und Antikörper, die den Ausbruch der Krankheit verhindern oder verzögern.

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Auch in Deutschland erwarten die Behörden den ersten vCJK-Fall. Mit 600 Patienten bis 2040 rechnet das Robert-Koch-Institut. Da aber niemand weiß, wie viele BSE-Portionen man essen muss, um sich zu infizieren, bleiben alle Prognosen Spekulation. Generell sind die Experten mit Vorhersagen vorsichtig geworden. So meint Groschup: „Es könnte sein, dass die BSE-Fälle in Deutschland in den nächsten zwei Jahren noch auf dem jetzigen Niveau bleiben und erst dann erkennbar sinken.“ Der Rinderwahn bleibt uns also erhalten – auch wenn ihn kaum noch einer wahrnimmt.

Karin Hollricher

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