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Der tägliche Meuchelmord

Allgemein

Der tägliche Meuchelmord
100 Millionen Landminen müssen geräumt werden. Jahr für Jahr geben Regierungen Milliardenbeträge für High-Tech-Rüstung aus. Doch für die Entschärfung verminter Gebiete haben sie nur Brosamen übrig.

Alle 20 Minuten tötet oder verstümmelt eine Landmine irgendwo auf der Welt einen Menschen. Massenvernichtung in Zeitlupe. Mehr als 100 Millionen vergrabene Sprengsätze lauern nach Schätzungen der Vereinten Nationen auf ihre Opfer – verteilt auf etwa 60 Länder. Die meisten Minen liegen als Überbleibsel aus Stellvertreterkriegen des ehemaligen Ost-West-Konflikts in Ländern der Dritten Welt. Sechs Millionen sorgen indes ganz in unserer Nähe für Terror: in Bosnien, in Kroatien.

Einmal ausgelegt, schlummern Minen jahrzehntelang im Boden. Wer auf sie tritt, wird zerfetzt – ob feindlicher Soldat oder spielendes Kind. Neun Zehntel der Getroffenen sind Zivilisten. Lange nachdem ein Krieg offiziell beendet ist, sorgen die versteckten Vollstrecker dafür, daß ganze Landstriche unbewohnbar bleiben. Verminte Straßen, Brunnen und Fabriken zerstören die Infrastruktur – eine Katastrophe für arme Länder wie Kambodscha, Laos, Mosambik, Angola oder Afghanistan.

Zwar wurden in jüngster Zeit neue Räumtechniken entwickelt. Doch noch gibt es nur eine verläßliche Art, Minen zu beseitigen: in mühseliger und gefährlicher Handarbeit die Erde zu durchwühlen. Statistisch gesehen kommt auf 2000 entschärfte Sprengsätze ein verletzter Sucher, auf 5000 ein getöteter.

Während Minen in Windeseile von Hand oder mit Minenwerfern vom Boden oder aus der Luft verstreut sind, dauert es im Durchschnitt 100 Stunden, eine einzige zu finden und unschädlich zu machen. Eine Mine zu räumen, kostet im Schnitt 500 bis 1500 Mark, eine anzuschaffen und auszulegen, oft nicht mehr als 5 Mark.

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Derzeit räumen zivile Trupps im Jahr etwa 100000 Minen: Bewaffnet mit einer Nadel rutschen die Männer der Suchmannschaften auf den Knien über den Boden. Alle zwei Zentimeter stechen sie die Sonde schräg in die Erde. Dadurch soll eine Mine möglichst nicht oben am Auslösemechanismus, sondern an der Seite getroffen werden. Schon ein Kilogramm Belastung kann genügen, um sie auszulösen. Stößt die Suchnadel auf einen Widerstand, wird mit einem Schäufelchen nachgegraben. Entpuppt sich der Fund als Mine, wird sie mit einem Pinsel freigelegt.

Die Sprengkörper werden meist an Ort und Stelle mit einer zusätzlichen Sprengladung versehen und hochgejagt. Das ist sicherer, als ihre Zünder auszubauen. Technikfreaks und Militärs träumen zwar von Mikrowellengeräten und Lasern, um die Sprengkörper zu zünden, und Chemikalien, um sie unschädlich zu machen. Doch das ist Zukunftsmusik.

Die Räumkommandos sind außer mit Suchnadeln meist auch mit Metalldetektoren ausgerüstet. Metallose Minen wie die jugoslawische PMA-3 können damit allerdings nicht geortet werden. Andere Modelle enthalten nur Bruchteile eines Gramms an Metall. Die Detektoren müssen daher hochsensibel sein und sogar auf eine vergrabene Stecknadel reagieren. Dadurch kommt es zu zahlreichen Fehlalarmen, wenn etwa rostige Nägel, Granatsplitter oder Metallfragmente einer bereits gesprengten Mine im Boden liegen.

So müssen manchmal abgerichtete Schäferhunde herhalten, um den Sprengstoff der Minen zu erschnüffeln: Hundenasen erriechen die Sprengstoffdämpfe, die aus jeder Mine entweichen. Doch auch das funktioniert nur mit Abstrichen. Hunde ermüden und reagieren manchmal verwirrt in Minenfeldern. Zu viele Duftmoleküle irritieren ihre sensiblen Nasen.

Um die Vierbeiner nicht quer durch die Lande kutschieren zu müssen, bietet beispielsweise das südafrikanische Unternehmen Mechem, ein Marktführer in Sachen Minenräumung, einen besonderen Service: Die Firma montierte eine Art Staubsauger an ausgediente Militärfahrzeuge, die die ausgasenden Sprengstoff-Moleküle auf-nehmen und konzentrieren. Alle Proben kommen nach Pretoria. Dort schnuppern nacheinander mehrere Hunde an dem Staub. Signalisiert keines der Tiere Interesse an den Proben, garantiert Mechem, daß das entsprechende Gebiet minenfrei ist. Inzwischen konnte die Firma damit in Mosambik und Angola Hunderte Kilometer Stra-ße und Stromleitungen, die als minenverseucht galten, auf wenige Kilometer reduzieren, die tatsächlich vermint waren. Sprengstoff erschnüffelnde Geräte gibt es dagegen nicht.

In Kuwait, das nach dem Golfkrieg einen Auftrag in Höhe von einer Milliarde Mark zur Entminung vergab, setzten die Unternehmen erstmals Infrarotsensoren ein, die eine Mine am Temperaturunterschied zur Umgebung erkennen. Im Wüstensand funktioniert dieses Verfahren ordentlich, für andere Böden ist es weniger geeignet.

Zwar tüfteln Forscher auch an Radargeräten zur zivilen Minensuche. Die Wahl der richtigen Radarfrequenz, die abhängig ist von Vegetation, Feuchte und Bodenart, macht den Forschern aber noch zu schaffen. Am europäischen Forschungszentrum im italienischen Ispra haben sich Wissenschaftler auf Ortungsgeräte spezialisiert, die in Bosnien helfen sollen. Im kommenden Jahr wollen sie den Prototyp eines Radar- Infrarotgerätes vorstellen. Damit sollen dann praktisch alle verlegten Minen aufgestöbert werden können.

Nach wie vor investieren die Regierungen viel Geld in immer perfidere Minen: Allein die Bundesregierung gab zwischen 1990 und 1994 über zwei Milliarden Mark für die Anschaffung von Landminen und Verlegungsgerät aus, sagt Otfried Nassanen vom Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit. „Es ist höchste Zeit, daß Geld, das im Bundeshaushalt immer noch für die Entwicklung intelligenter Minen vorgesehen ist, für die Erfindung von Detektionsmaterial von Plastikminen eingesetzt wird“, fordert Rupert Neudeck vom Komitee Cap Anamur.

Weltweit existieren weit über 200 Minentypen – mit allen erdenklichen Gemeinheiten:

Bei manchen ist der Sprengstoff so dosiert, daß die Mine „nur“ ein Bein oder einen Arm abreißt. Denn auf dem Schlachtfeld hält ein Verstümmelter die feindlichen Verbände länger auf als ein Toter. Andere Minen haben zwei Sprengladungen: Die erste läßt die Mine bis in Brust- oder Hüfthöhe fliegen, die zweite verschießt dann die Metallsplitter. Nicht alle Modelle lösen auf Druck aus; einige reagieren auf den Zug eines Stolperdrahtes, das Stochern einer Suchnadel oder das Nahen eines Metalldetektors und erschweren so die Räumung verminter Gebiete. Militärs entwickeln Minen immer mehr zu autonomen Kampfrobotern, die auf große Entfernung ihr Ziel anpeilen und zerstören.

Im Vergleich zur Vielfalt der Tötungsautomaten nimmt sich die militärische Technik zur Minensuche und -räumung bescheiden aus: Neben Suchnadel und Metalldetektor setzen Armeen vor allem auf Spezialpanzer, die mit Dreschflegeln, Walzen oder Fräsen den Boden bearbeiten. So schiebt der Minenräumpanzer „Keiler“ der Bundeswehr ein Gestänge mit Klöppeln vor sich her, die mit 200 Kilometern pro Stunde auf den Boden schlagen. Dadurch sollen die Minen ausgelöst, zerschlagen oder auf die Seite geschleudert werden. Ganz aktuell ist ein Pilotversuch in Bosnien, wo amerikanische Soldaten Minen mit einer orangefarbenen Flüssigkeit überziehen, die an der Luft aufschäumt und rasch erhärtet. Danach ist die Mine trittsicher und kann gefahrlos weggezogen werden: Durch den Schaum ist der Zünder blockiert und die Mine kann auch bei Stößen nicht mehr explodieren. Allerdings: Ehe diese Technik greift, muß die Mine erst einmal aufgespürt sein.

Humanitäre Räumkommandos profitieren von der militärischen Technik kaum. Zu unterschiedlich sind die Anforderungen: Armeen wollen durch Minenfelder möglichst schnell eine Bresche schlagen. Wenn die eine oder andere Mine liegen bleibt, fällt das unter das Berufsrisiko der Soldaten. Nach einem Krieg geht es dagegen darum, flächendeckend zu entminen. Die Vereinten Nationen, die inzwischen zur größten Minenräumagentur der Welt avanciert sind, verlangen, daß 99,6 Prozent aller Minen beseitigt werden. Dieser Wert gilt als erreichbar, wenn man die Minen mit größter Sorgfalt beseitigt.

Um die Wühlarbeit von Hand überflüssig zu machen, werden zur Zeit schwere Räumfahrzeuge erprobt. Vor Jahresfrist fuhr mit Unterstützung der Bundesregierung, die 1996 rund drei Millionen Mark für humanitäre Minenräumtechnik zur Verfügung gestellt hat, ein Gefährt durch Mosambik, das an einen gepanzerten Mähdrescher erinnert.

Die 40 Tonnen schwere umgebaute Waldfräse des Deutschen Walter Krohn pflügt den Boden bis zu 50 Zentimeter tief um und hackt dabei alles in Stücke. Dadurch sollen die Minen entweder hochgehen oder in kleine ungefährliche Teile zersprengt werden. „Ursprünglich wollte ich mit dieser Fräse nur das Wachstum meiner Bäume anregen“, erzählt Krohn, der in Masburg in der Eifel eine Baumschule hat. Doch nun läßt der eigensinnige Mann nicht mehr locker. Trotz einiger Unfälle bei der Arbeit schwört der 68jährige auf die hundertprozentige Räumrate seiner Fräse, in die er sein ganzes Vermögen gesteckt hat. In diesen Tagen, so hofft Krohn, kann er endlich den „potenten Industriepartner“ präsentieren, der mit ihm kooperieren will.

Auch andere deutsche „Zivilisten“ wollen in das Minenräumgeschäft einsteigen – etwa die Gebrüder Vielhaben, denen eine Firma für Straßenbaufräsen in Norderstedt bei Hamburg gehört. Im Mosambik wollen sie beweisen, daß eine ihrer Spezialfräsen, die den Boden umgräbt und alles heraussiebt, was größer als fünf Zentimeter ist, mit der tödlichen Fracht fertig wird.

Die meisten Minen explodieren dabei. Die übrigen landen wie Kartoffeln bei der maschinellen Ernte auf einem Band. Bei einer Sichtkontrolle sollen dann alle Minen und Minenfragzente aussortiert werden.

Die Idee, eine Straßenbaufräse umzurüsten, kam Knud Vielhaben auf einer Geschäftsreise. Das tragische Schicksal eines jungen Südkoreaners, dem eine Mine ein Bein abgerissen hatte, ließ ihn eine Minenräum-Maschine konstruieren. Die erste Bewährungsprobe hatte seine Konstruktion auf dem Todesstreifen an der deutsch-deutschen Grenze. Stolz verweist Vielhaben darauf, daß die Bundeswehr ihm bescheinigt habe, „nach menschlichem Ermessen minenfrei“ geräumt zu haben. Die zivile Minensuch-Organisation Norwegian People’s Aid probiert in Bosnien einen Leopard-Panzer ohne Waffen aus, der eine Walze mit scharfen Zähnen vor sich herschiebt. Mitentwickelt hat das Gefährt der schwedische Rüstungskonzern Bofors – und sich prompt Kritik eingefangen. „Die Rüstungsindustrie streicht ihre Panzer weiß an und sagt, das sei eine neue Entwicklung“, schimpft Hendrik Ehlers von „Menschen gegen Minen“ in Krefeld. Auch die deutsche Firma MaK, die den „Keiler“ gebaut hat, schmiedet an einer zivilen Bodenfräse.

Gepanzerte Fahrzeuge loszuschikken, lohnt sich indes nur bei größeren Minenfeldern. Priorität haben kleinräumige Aktionen, um sicheren Zugang zu Brunnen, Schulen, Krankenhäusern und Brücken zu schaffen. Viele Einsatzgebiete sind zudem für die tonnenschweren Kolosse nicht erreichbar. Brücken, die ein so großes Gewicht aushalten, gibt es oft nicht, ganz zu schweigen von der Infrastruktur, die etwa ein Leo-Panzer braucht.

Wo sogenannte Anti-Panzer-Minen ausgelegt sind, ist selbst eine dick gepanzerte Maschine in Gefahr. Rattert sie auf einen solchen Sprengsatz, kann sie trotz vorgeschalteter Walze oder Fräse in die Luft fliegen. In manchen Landstrichen haben die Kombattanten bis zu 500 Kilogramm schwere Sprengsätze im Boden vergraben. Gegen deren Sprengkraft ist jede Panzerung machtlos. Überdies gibt es perfide Sprengfallen, bei denen eine dicke Ladung von kleineren Minen umgeben ist. Fährt ein Räumpanzer über eine solche Konstruktion, geht der Sprengkörper mit etwas Pech statt unter der Walze unter der Fahrerkabine hoch.

Hîvard Bach von Norwegian People’s Aid schlägt vor, gepanzerte Fräsen dahin zu schicken, wo nicht sicher ist, ob überhaupt Minen liegen. Wenn sie dort nichts zur Explosion brächten, könne das Gebiet mit hoher Wahrscheinlichkeit als minenfrei gelten. Ob man mit der verbleibenden Unsicherheit leben könne, sei allerdings noch zu diskutieren. Immerhin könnten die schweren Maschinen mehr als die Hälfte der minenverdächtigen Areale übernehmen. Unter günstigen Bedingungen würden sie schneller arbeiten als 1000 Menschen, meint Bach. Wenn Suchkommandos alle verdächtigen Flächen von Hand durchpflügen, bräuchte das Jahrzehnte.

Andererseits sorgt die manuelle Minensuche in etlichen Ländern auch für Lohn und Brot. In Mosambik zum Beispiel kamen so in den letzten Jahren 600 Einheimische zu einer bezahlten Arbeit. In Afghanistan war das UN-Minenräum-Programm zeitweise sogar der größte Arbeitgeber im Land.

„Am besten ist es, die Leute zu finden, die die Minen reingesteckt haben und sie anzustellen“, urteilt Hendrik Ehlers von der Stiftung „Menschen gegen Minen“, der gegenwärtig eine Räumaktion in Angola leitet. Solche Suchtrupps wüßten wenigstens genau, wo sie arbeiten müßten. Schließlich sei es bei jedem Projekt die erste und oft schwierigste Aufgabe, die Minenfelder überhaupt zu lokalisieren.

Angesichts der Armut in vielen Ländern ist es für Unternehmen wenig lukrativ, sich mit anspruchsvollen Minensuch-Automaten zu beschäftigen. Einige Forschungsinstitute haben indes bereits Konzepte entwickelt. So bauten etwa Ingenieure der Technischen Hochschule Lausanne einen zweirädrigen Prototypen namens Pemex (Personal Mine Explorer), der selbsttätig über die Landschaft rollt und Minen aufspürt. Doch die Entwickler haben zugegeben, daß ihr Roboter kaum in Länder wie Kambodscha oder Mosambik exportiert werden kann, solange dort Minensucher für ein Jahreseinkommen von unter 1000 Dollar Kopf und Kragen riskieren.

Infos im Internet Internationaler Landminen Almanach Stiftung Menschen gegen Minen: http://www.dsk.de/mgm/mgmlinks.htm UN/DHA – Minendatenbank: http://www.un.org/Depts/Landmine Canadian Forces College; Kanadische Militärakademie – Abteilung Frieden und Abrüstung http://www.cfcsc.dnd.ca/links/peace/mines.html

Wolfgang Blum

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