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Die Magie der Metropolen

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Die Magie der Metropolen
Arbeiten, leben, wohnen – wie gewohnt? Die Arbeit verändert sich radikal: Die neuen Kommunikationstechniken machen sie ortsunabhängig. Das Wohnen dagegen – von menschlichen Wünschen geprägt – wird sich nur technisch verfeinern. Gesucht ist weiter die wilde Mischung des Städtischen.

Doris Day war die Zukunfts-Sirene der Nachkriegszeit. Ihr fabelhaft gut gelaunt vorgetragener Schlagerrefrain „Que sera, sera…“ brachte den Optimismus der fünfziger Jahre auf den Punkt. Doris Day gab uns das Gefühl, daß alles, was künftig überhaupt nur passieren könnte, einfach wunderbar sein müsse. Man träumte davon, am Polarkreis unter riesigen transparenten Klimakuppeln sehr kommod zu wohnen und Bananen zu züchten. Oder in Städten auf und unter dem Meer. Auch das Leben in riesigen, baumartigen Stahlgerüsten, errichtet hoch über den altmodischen Städten wurde begeistert diskutiert: Wohnen und Arbeiten würden sich dort in eingehängten, vorgefertigten Zellen vollziehen, und die verbliebene Natur auf dem Erdboden ließe sich wie nebenbei vor der Zersiedlung retten.

Bilder schöner neuer Welten lassen sich leicht entwerfen, wenn man nahezu anwendungsreife, also greifbar gewordene Zukunftstechniken auf die Gegenwart zurückspiegelt. Weniger bunt, aber nicht minder spannend wirken dagegen jene Zukunftsszenarien, deren Pointe nicht im technischen Clou, sondern in der Prognose individuellen und kollektiven menschlichen Verhaltens gipfelt. Zum Beispiel in der Urbanistik – der wissenschaftlich betriebenen Stadtplanung, Raumordnung und dem Städtebau. Hier kommen jede Menge Politik, Wirtschaft und die Sehnsüchte von vielen einzelnen, sozialen Gruppen und ganzen Gesellschaften ins Spiel. Und natürlich kulturelle Aspekte im weitesten Sinn: Bauen und Wohnen, Arbeiten und Leben, nicht zuletzt Freizeit und Umwelt.

Wie also werden die Menschen im 21. Jahrhundert leben? Was können, dürfen oder sollen wir wollen, wenn es um die Ausgestaltung unserer künftigen Lebensräume geht? Die in den Nachkriegsjahren erträumten Städte in der Antarktis, in der Luft oder im Meer sind nicht Wirklichkeit geworden. Die Urbanistik geht ohne starke Visionen in das nächste Jahrtausend. Eines der wenigen Leitbilder ist allerdings in aller Munde: Marshall McLuhans Idee vom „Globalen Dorf“.

Im „Global Village“, so lautet die ziemlich wahr gewordene Voraussage des amerikanischen Werbefachmanns, bestimmen die Medien das Leben. Kommunikationstechnologie läßt alle Distanzen schwinden, geografische wie zeitliche. Und sie verkürzt logische und psychologische Reaktionsketten etwa in der Politik oder auf den Weltmärkten. Die Fülle der Botschaften läßt im Globalen Dorf alles gleich wichtig oder unwichtig erscheinen. Orte werden bedeutungslos, kommunikative Netzwerke dagegen immer wichtiger.

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Dabei ist immer noch Henry David Thoreaus Vision aktuell: Schon 100 Jahre vor McLuhan ahnte der amerikanische Schriftsteller und Philosoph (1817 bis 1862), daß Information nicht mit Wissen gleichzusetzen ist: „Wir beeilen uns, den Atlantischen Ozean zu durchkabeln, um die Alte Welt der Neuen ein paar Wochen näherzurücken; vielleicht lautet aber die erste Nachricht, die in das große amerikanische Schlappohr hineinrinnt: Prinzessin Adelheid hat den Keuchhusten.“

Dennoch bleibt in einer digital und informell globalisierten – Welt(un)ordnung die Frage bestehen: Welche Rolle werden Städte und Regionen übernehmen, wenn die herkömmlichen Zentren ihre Macht und Anziehungskraft verlieren, weil die Instrumente politischer Steuerung und ökonomischer Wertschöpfung – Information, Wissen, Dienstleistung – standortunabhängig sind, also dezentral eingesetzt werden können?

Damit steht ein Kulturmodell zur Debatte, das die Stadt schon vor Jahrtausenden zum Motor allen zivilisatorischen Fortschritts gemacht hat – der Dualismus von Zentrum und Peripherie. Haben Zentralität, geordnete räumliche Konzentration, soziale Dichte und städtische Öffentlichkeit künftig noch eine Chance?

Die Futurologen unter den Urbanisten sind sich keineswegs einig: Die einen sehen die Weltbürger sich allmählich zerstreuen und vereinzeln, geografisch wie mental, den vernetzten Laptop unter dem Arm. Andere halten am Prinzip der traditionellen Stadt fest und wollen sie vor weiterer Zersiedlung schützen. Dritte wiederum sehen die künftige Welt zweigeteilt: In eine hochentwickelte und wohlhabende Zivilisation auf der Nordhalbkugel, die in ihren Metropolen weiterhin wohnt und arbeitet und die Weichen stellt. In Regionen der Unterentwicklung, die geprägt sind einerseits von rasantem und ungeordnetem Bevölkerungszuwachs in Megalopolen (Mexiko City, Bombay, São Paolo), andererseits von massiver Landflucht. Jede dieser Theorien ist plausibel – vor allem aber: Sie hat kulturelle Wurzeln, welche die Interpretation der empirischen Daten prägen.

Die Szenarien vom digitalen Einzelkämpfer basieren einerseits auf dem, was technisch machbar ist, und andererseits auf einer immateriellen Ökonomie, die längst Realität geworden ist. Daß ihre Umsetzbarkeit bisher kaum diskutiert wurde, hat einen simplen Grund. Die meisten dieser Spekulationen stammen aus den USA und fußen auf einer speziellen Pioniermentalität: Leitfigur ist der kreative Einzelgänger, der in der Idylle von Montana oder Oregon nicht als Trapper oder Farmer, sondern als hochspezialisierter Informatiker oder Marketingexperte arbeitet.

Dieses Denkmodell – der Franzose Joel de Rosnay (Leiter des Pariser Wissenschaftsparks Cité des Sciences et de l’Industrie) spricht von „multinationalen Einmannbetrieben“ – läßt sich allerdings schwerlich auf europäische Mentalitäten anwenden; nicht einmal auf die amerikanischen Kosmopoliten in New York, Boston oder Los Angeles.

So vermutet denn auch die amerikanische Sozialwissenschaftlerin Saskia Sassen, daß die großen Wirtschaftszentren der Welt – New York, London, Tokio, Paris, Hongkong, Singapur – weiter für Unternehmen und berufstätige Stadtbewohner attraktiv bleiben werden. Dort werden auch in Zukunft die großen Geld- und Informationsströme zusammenlaufen, und diese Orte werden in Zukunft das Sehnsuchtsbild aller Städter abgeben.

Aber was geschieht mit all den Städten, die keine Metropolen sind? Sie werden sich, zumindest in Europa, auf eine überregionale Arbeitsteilung, auf die Bildung von „Stadtnetzen“ einigen müssen. Die Expertendiskussion kreist derzeit um die Frage: Wie läßt sich das urbane Potential der nachindustriellen europäischen Stadt – das baukulturelle Erbe, Reste der identitätstiftenden kleinteiligen Struktur, Institutionen der Bildung und der Wissenschaft – gegen den starken Trend zur kommerziellen Vernutzung der Stadt verteidigen und ausbauen? Wie können Planer das chaotische Wuchern der Städte ins Umland stoppen?

Mit Manifesten und großen planerischen Würfen lassen sich diese komplexen Debatten in der Interessendemokratie nicht mehr krönen. Wo gehandelt wird – im stark von Altindustrien geprägten nördlichen Ruhrgebiet, zum Beispiel bei der „Internationalen Bauausstellung Emscher Park“ –, folgt man der Maxime punktueller Intervention: Eine Reihe sparsamer Einzelprojekte (hier ein renaturierter Wasserlauf, da ein ökologisch geplanter Neubau, dort ein pfiffig umfunktioniertes Industriedenkmal) soll als ein beispielhaftes Ganzes wahrgenommen werden, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Solche Planung nennt Henry Beierlorzer, Manager der IBA-Emscher Park, allerdings die „Festivalisierung von Politik“.

Das Ruhrgebiet mit seinem Netz unstädtischer Kommunen und den vielen Stadt-, Industrie- und Landschaftsbrachen ist ein Paradebeispiel für eine neue Planungsstrategie, die nicht mehr den urbanen Zentren, sondern ihren auswuchernden Peripherien gewidmet ist. Das Schlagwort heißt „Zwischenstadt“. Geprägt hat es der Architekt Thomas Sieverts. Der Darmstädter Hochschullehrer empfiehlt den Urbanisten, ihren planerischen Eros auf jene schäbigen Orte zu richten, die zwischen Gewerbegebieten, Gleisanlagen und Siedlungsrändern entstanden sind: einer Topografie „zwischen Ort und Welt, Raum und Zeit, Stadt und Land“ . Der Professor sieht in der Zwischenstadt jedoch keine Chancen mehr für herkömmliche Baukunst. Er schwärmt vom vorhandenen und kultivierbaren „chaotischen Formenreichtum“, der sich dort im Freistil („Para-Ästhetik“) entfalten könne.

Thomas Sieverts steht nicht allein. Vor allem die holländische Architekten-Avantgarde, tätig in einem dicht besiedelten Land, verfolgt ähnliche Ziele. „Zwischenstadt“ wird dort geplant wie in den fünfziger Jahren: nicht als kleinteiliger, variationsreicher Städtebau, sondern aus der Perspektive des einzelnen Bauwerks, des markanten Solitärs. In jedem größeren Haus, so die Vorstellung, offenbart sich die Idee der Stadt. Das Gebäude wird zur integrierten Wohn-, Büro- und Freizeitmaschine; die Stadt verwandelt sich in einen Riesenspielzeugkasten aus leger abgestellten, autonom gestalteten Großbauten.

Wie diese Zukunft aussehen wird, läßt sich schon jetzt an der nordfranzösischen Stadt Lille ablesen. Für den Haltepunkt der neuen direkten Schnellbahnverbindung Paris–London hat der holländische Architekt Rem Koolhaas ein neues Zentrum, „Euralille“ , geplant. Es entsteht ein massiges Ensemble von Großbauten, das die Maßstäblichkeit der alten Stadt bewußt bloßstellt: Städtebau mit der Brechstange.

Diese Rückkehr zur architektonischen Großform ist auch eine Rückwendung zu den Anfängen des letzten Jahrhunderts, als die westliche Welt sich für Wolkenkratzer begeisterte. Gegenwärtig entstehen, vorläufig noch auf dem Papier, zahlreiche „Millennium Tower“: Wolkenkratzer, in denen ganze Stadtbevölkerungen, ganze Bürostädte unterkommen sollen.

In Hongkong und Shanghai werden schwindelerregende Hochhäuser, auch Wohntürme, gleich bündelweise hochgezogen. Einwände, etwa mit Hinweis auf die Unwirtlichkeit urbaner Großprojekte der jüngeren Vergangenheit, gibt es kaum. Denn die neue Welt der Großtechnologie und der Großkonzerne scheint nur in der Größe ihren sinnfälligen Ausdruck zu finden.

Und das Wohnen, die private Welt im 21. Jahrhundert? Eine strahlende Utopie ist auch hier nicht in Sicht. Es wird, zumindest in den nachindustriellen Gesellschaften, weiter gewohnt wie gewohnt. Immerhin werden die großen Häuser der Zukunft, die auch Stadt und Vergnügungszentrum sein wollen, ein modernisiertes technisches Innenleben haben. „Intelligente Häuser“ versprechen durch ausgefeilte Steuerungstechnik eine bessere Wirtschaftlichkeit, nicht zuletzt durch kontrollierten Energieverbrauch. Das Intelligente Haus macht das Licht aus, wenn ein Mensch sein Zimmer verläßt, kontrolliert den Inhalt der Hausbar und sorgt für Nachbestellungen. Es signalisiert Defekte und repariert sich notfalls selbst – wie ein Satellit im All.

Seine Bewohner wird das nur in Maßen interessieren. Ihre Wohnbedürfnisse ändern sich kaum und wenn, nur sehr langsam. Die uralten Wünsche nach der Mischung aus Begegnung, Privatheit und Öffentlichkeit, nach Repräsentation, Unterhaltung und Kultur, die schon unsere Vorväter in die Städte lockten, werden sehr lebendig bleiben. Urbanität bedeutet vor allem: Intensität und eine Vielfalt von Wahlmöglichkeiten. Das ist nur in der komplexen, rauhen, chaotischen, faszinierenden, widersprüchlichen Wirklichkeit städtischer Gesellschaften zu haben.

Christian Marquart

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