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DIE STAMMZELLJÄGER

Allgemein

DIE STAMMZELLJÄGER
In Heidelberg und Tübingen erforschen Wissenschaftler die Geheimnisse der Stammzellen. Sind die Grundlagen erkannt, könnten vielfältige medizinische Anwendungen folgen.

„Heute erlaube ich keine Besuche!“ Prof. Petra Boukamp sagt es mit einem Augenzwinkern. Zu heiß und zu schwül ist es in diesen Sommertagen, als dass sie ihre wertvollen Zellen im Laborraum nebenan einem Gast aussetzen wollte, der sie womöglich mit Pilzen oder anderen Krankheitserregern infiziert. Die Leiterin der Abteilung „Genetik der Hautkarzinogenese“ im Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg hat allen Grund, vorsichtig zu sein: Ihre zellulären Schützlinge nebenan bilden die Haut nach, ein höchst kompliziertes Organ. Mithilfe des lebensechten dreidimensionalen Zellmodells, das Petra Boukamp aus Zellen der menschlichen Haut und weiteren geheimnisvollen Zutaten geschaffen hat, lassen sich das Wachstum und die Eigenschaften der Haut studieren. Das Modell erlaubt es den Wissenschaftlern außerdem, einem exklusiven Zelltyp näherzukommen – den Hautstammzellen.

Hautstammzellen leisten Erstaunliches: Sie produzieren unablässig Nachschub und sorgen so dafür, dass die abschilfernden Zellen der obersten Hautschicht durch neue Zellen ersetzt werden. Die kontinuierliche Rundum-Erneuerung dauert beim Menschen etwa einen Monat: Von unserer Körperoberfläche aus betrachtet, sind wir alle vier Wochen ein neuer Mensch. „Dass es in der Haut Stammzellen gibt, wissen wir schon seit mehr als 35 Jahren“, erklärt Petra Boukamp. Wie eine Hautstammzelle aber aussieht, an welchen Markern man sie zweifelsfrei erkennen kann und wo genau die besonderen Zellen verborgen sind, ist nach wie vor ein Rätsel. „Im Grunde ist der Begriff Hautstammzelle noch immer eine reine Funktionsbeschreibung“, ergänzt die Professorin. Nur an ihren Werken sind die Zellen zu erkennen – darüber hinaus weiß man wenig von ihnen.

Fünf Jahre intensive Arbeit haben die Heidelberger Forscher in die Entwicklung ihres Zellmodells gesteckt. Mit ihm ist es erstmals gelungen, in der Haut Zellen zu identifizieren, die Stammzell-Eigenschaften zeigen. Die Wissenschaftler nennen diese Zellen „Label Retaining Cells“, kurz LRCs, weil man sie mit bestimmten Markierungsmethoden (labels) sichtbar machen kann.

UNGLEICHE TÖCHTER

Sie teilen sich nur selten, und wenn sie es dann doch einmal tun, gehen aus ihnen nicht wie üblich zwei gleichartige Zelltöchter hervor, sondern ein ungleiches Duo: eine Zelle, die in die „Fußstapfen“ ihrer Zellmutter tritt und eine Stammzelle bleibt, und eine zweite Zelle, die anders aussieht und sich auch anders verhält. Im Unterschied zu ihrer teilungsträgen Schwester ist die zweite Zelltochter außerordentlich teilungsfreudig und produziert als sogenannte Vorläuferzelle sämtliche neuen Hautzellen. Mit den Markierungsmethoden ist es schon länger möglich, in der sogenannten Bulge-Region der Haarwurzeln (Follikel) von Mäusen LRCs zu orten. Auch in der Oberhautschicht, die zwischen den Follikeln liegt, der „interfollikulären Epidermis“, gibt es solche Stammzellen. „Mäusehaut ist aber nicht gleich Menschenhaut“, sagt Petra Boukamp entschieden: „Der Mensch hat generell nur wenige Haarfollikel, bei ihm spielt die interfollikuläre Epidermis die Hauptrolle.“ Deshalb wollen die Forscher ihr 3D-Hautmodell, das genau diese Situation widerspiegelt, nutzen, um menschliche Hautstammzellen zu identifizieren und zu charakterisieren. „Unser Ziel ist es, menschliche Hautstammzellen in reiner Form zu gewinnen“, erklärt Petra Boukamp. Diesem Ziel ist man bislang nur mit den Stammzellen des blutbildenden Systems nähergekommen.

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Von diesem bereits vergleichsweise gut untersuchten Stammzellsystem wissen die Forscher auch, dass Stammzellen keine Solitäre sind: Nie kommen sie alleine vor, sie sind immer Teil einer Gemeinschaft von Zellen. Die Umgebung, in der Stammzellen leben, ist ebenso wichtig wie die Stammzelle selbst. Die Wissenschaftler nennen diese Orte inniger Verbundenheit „ Stammzellnischen“. Wo die Nischen der menschlichen Hautstammzellen zu suchen sind, wie die Nischen beschaffen sein müssen, damit sich die Zellen darin wohlfühlen, wie Stammzellen untereinander und mit ihren Umgebungszellen kommunizieren und welche molekularen Signale für sie wichtig sind – das sind Fragen, die Petra Boukamp in nächster Zeit beantworten möchte. Und wenn auch diese Arbeit getan ist, betont sie, „dann lässt sich auch etwas über potenzielle Anwendungen sagen, etwa in der Transplantations- oder Krebsmedizin“.

DAS KOMMUNIKATIONS-UNIVERSUM

Wenige Gehminuten von Petra Boukamps Laborräumen im Krebsforschungszentrum entfernt, erforscht Dr. Francesca Ciccolini im Institut für Neurobiologie der Universität Heidelberg die derzeit wohl mysteriösesten Vertreter der Stammzellzunft: die Stammzellen des Gehirns. Aus Urstammzellen, sogenannten neuroepithelialen Zellen, gehen während der Entwicklung des Embryos alle Zellen des zentralen Nervensystems hervor. Dabei handelt es sich um einen der komplexesten Vorgänge, die man in der Biologie kennt: Schätzungsweise zehn Milliarden Nervenzellen sind es beim Menschen, die aus Stammzellen hervorgehen und miteinander zu einem Kommunikations-Universum verknüpft werden. Die Stammzellen des Gehirns, dachten die Forscher früher, werden während dieses kräftezehrenden Entwicklungsschritts komplett aufgebraucht.

In den frühen 1990er-Jahren jedoch entdeckten die Wissenschaftler, dass auch noch im erwachsenen (adulten) Gehirn Zellen existieren, die sich teilen und vermehren können. Erstmals isoliert wurden sie aus den Gehirnen ausgewachsener Mäuse, wo man sie vor allem in der Nähe der flüssigkeitsgefüllten Höhlen der Hirnhälften und in einer Hirnregion mit dem Namen Hippocampus fand, die für das Lernen und die Erinnerung unerlässlich ist. Im Jahr 2000 wiesen amerikanische Forscher Zellen mit Stammzelleigenschaften schließlich auch im Hirn erwachsener Menschen nach. Welche Aufgaben die Stammzellen aber im Erwachsenengehirn haben, ist noch weitgehend unbekannt: Neue Nervenzellen jedenfalls scheinen sie zwar auch im adulten Hirn zu produzieren – aber nur in Ausnahmefällen. „Wir wollen die Funktion der neuralen Stammzellen besser verstehen“, sagt Francesca Ciccolini. „Und dazu müssen wir die Zellen so gut wie irgend möglich charakterisieren.“ Auch sie steht vor dem Problem, der seltenen Zellen überhaupt habhaft zu werden. Die junge italienische Wissenschaftlerin hat deshalb eine Methode entwickelt, mit der es ihr gelingt, neurale Stammzellen im Gehirn von Säugern anhand ihrer Aufnahmestationen (Rezeptoren) für den Wachstumsfaktor EGF (Epidermal Growth Factor) zu identifizieren. Mit ihrer neuen Nachweismethode untersucht die Forscherin gerade, wie sich inaktive von aktiven Hirnstammzellen unterscheiden und welche molekularen Signale imstande sind, eine ruhende in eine teilungsbereite Stammzelle zu verwandeln. Erst wenn diese elementaren Zusammenhänge verstanden sind, betont Francesca Ciccolini, ist der Weg frei für Überlegungen, wie neurale Stammzellen in der Medizin genutzt werden können, etwa um Verletzungen und schwere Erkrankungen des zentralen Nervensystems zu behandeln.

Denn trotz aller Hoffnungen und vorschnellen Versprechungen: Der bislang einzige Einsatz von Stammzellen in der Medizin ist die Transplantation bei schweren Erkrankungen des blutbildenden (hämatopoetischen) Systems. Es ist das bislang am besten verstandene Stammzellsystem. Und auch hier hat es über zwanzig Jahre von der Entdeckung der Blutstammzellen bis zur ersten Stammzelltransplantation bei Blutkrebs gedauert und weitere zehn Jahre, bis dieses Verfahren als Standardtherapie Akzeptanz fand.

UNAUFHÖRLICH NEUE ZELLEN

Die blutbildenden Stammzellen sitzen im Knochenmark, vor allem in den Beckenschaufeln und den langen Röhrenknochen der Oberschenkel und Oberarme. Dort setzen sie unaufhörlich neue Blutzellen mit unterschiedlichen Funktionen in den Kreislauf frei: Rote Blutzellen transportieren Sauerstoff, weiße Blutzellen bekämpfen Krankheitserreger, Blutplättchen dichten Gefäße ab und schließen Wunden. Auch die Hierarchie, in der Stammzellen und ihre Abkömmlinge leben und die man jetzt auch für alle anderen Stammzell-Systeme des erwachsenen Organismus vermutet, ist vom blutbildenden System bekannt: Aus einer sich nur selten teilenden, langlebigen Stammzelle gehen Vorläuferzellen hervor, die sich häufig teilen und Blutzellen mit unterschiedlichen Aufgaben aus sich hervorgehen lassen. Die Wissenschaftler sprechen von „Differenzierung“, in deren Verlauf die Zellen ihre Teilungsfähigkeit sukzessive zugunsten der Spezialisierung aufgeben.

Der Schlüssel zum Verständnis der Stammzelle, der Stammzellhierarchie und Differenzierung ist auch hier ihre unmittelbare Umgebung: die Stammzellnische. Sie ist das eigentlich Entscheidende und zugleich Rätselhafteste der Stammzellbiologie. „Stammzelle und Nische bilden eine funktionale Einheit“, sagt Prof. Gerd Klein vom Zentrum für medizinische Forschung der Universität Tübingen. Er greift zum Füller und skizziert auf einem Blatt Papier, wie die Nische, der „ Heimathafen“ der Blutstammzellen im Knochenmark, beschaffen ist. Als Erstes zeichnet Klein flache, längliche Zellen, die Osteoblasten. Sie bilden Knochen und dienen den Stammzellen als stabiles „Kai“, an dem sie mit ihren Oberflächenmolekülen ankern. Weitere molekulare Anker befinden sich in der extrazellulären Matrix, die den Raum zwischen den Zellen ähnlich dem Wasser im Hafenbecken füllt. Dort enthalten sind auch Steuerelemente in Gestalt bestimmter Proteine, sogenannte Proteasen. Gerd Klein ist derzeit besonders an denjenigen Steuerproteinen interessiert, die imstande sind, Ankermoleküle zu spalten: Fehlt die Verankerung, verlassen die Stammzellen die Nische wie Schiffe den Hafen und gelangen in den Blutstrom. Als spaltende Proteine verdächtigt werden derzeit vor allem die „Matrix-Metallo-Proteinasen“. Auch Komponenten der extrazellulären Matrix entscheiden also mit darüber, ob eine Stammzelle in der Nische verbleibt oder ob sie sich auf den Weg der Differenzierung begibt.

„Eine Stammzelle im Stammzellzustand zu halten“, betont Klein, „ist eine aktive Leistung der Nische. Wir wollen alles darüber wissen, wie die Stammzellen unter natürlichen Bedingungen an die Osteoblasten und die extrazelluläre Matrix binden und wie sie sich wieder lösen.“ Deshalb konstruieren Gerd Klein und seine Mitarbeiter in ihrem Tübinger Labor gerade eine künstliche Stammzellnische: ein Modell, das die natürliche Umgebung der Stammzellen imitiert und die molekularen Signalwege mit ihren Anker- und Steuerproteinen besser verstehen lassen soll. „Ein Modell ist immer eine Reduktion der Wirklichkeit“, sagt Klein. Aber nur so können die Wissenschaftler die Geheimnisse der Blutstammzellen enthüllen. Die Hoffnung ist, dass daraus schnell Erkenntnisse erwachsen, die zum Wohl von Patienten eingesetzt werden können, etwa in Form neuer Medikamente, mit denen sich Stammzellen effektiv und nebenwirkungsarm aus dem Knochenmark gesunder Spender herauslocken und für Transplantationen bei Blutkrebs nutzen lassen. ■

von Claudia Eberhard-Metzger

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