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Die Totenburgen von Lalapasa

Allgemein

Die Totenburgen von Lalapasa
Megalithgräber an der türkisch-bulgarischen Grenze werfen unerwartete Fragen auf. Ein junger Archäologe versucht die tonnenschweren Steinmonumente der Vorzeit zu retten. Die Funde in der Balkan-Einöde legen jetzt eine neue Deutung nahe: Kam die Megalithkultur aus Westeuropa?

Zum Nachdenken geht Murat Akman hinauf in die Steinwüste. Oben im Geröll des Grenzgebirges zwischen Bulgarien und der Türkei weitet sich der – geographische wie metaphysische – Horizont. Der Archäologe versetzt sich zurück in die Zeit, als der Tod oftmals Schwerstarbeit bedeutete. Sterben und Leben vor 3000 Jahren hat Akman vor seinem geistigen Auge, wenn er über die einstigen Weidegründe der bronzezeitlichen Nomaden an dieser Schnittstelle zwischen Asien und Europa blickt:

Drunten herrscht Trauer in den Jurten, denn tags zuvor ist das Sippenoberhaupt gestorben. Während die Frauen heiser wehklagen, suchen die Männer nach der Nachtwache ihr Werkzeug zusammen. Niedergedrückt von den Brechstangen aus Bronze, sind sie wie die Packmaulesel überladen. Auf den Rükken der Tiere türmen sich Taue und Kufen, längs der Flanken baumelt Balg an Balg mit Wasser. Mit Glut aus dem Sommerlagerfeuer folgen die Knaben der Kolonne ins nahe Gebirge. Ordentlich Granit will man dort holen, auf daß der Heimgegangene ein unvergängliches Haus erhält.

Die Fundgrube für Findlinge am Fuß der Berge bietet diesmal nur zweite Wahl; der Beerdigungstrupp faßt das Gipfelplateau ins Auge. Auf der hohen Felsfläche wird Krüppelgesträuch entzündet – entlang Linien, die versierte Bestatter markiert haben. Als das Flammenmeer verebbt, wird Wasser auf den heißen Stein gegossen. Die kalte Dusche wirkt wie Dynamit und spaltet den Stein. Die frühen Sprengmeister brauchen jedoch zusätzlich eigene Kraft; mit Stemmbronzen vertiefen sie die Risse.

Wieder und wieder schockbehandeln sie den Granit, bis sich eine halbmeterdicke Platte – vier mal drei Meter groß – aus dem festen Gestein löst. Zwölf solcher Tafeln sind das mindeste für ein fürstliches Grab. Der Transport wird zur Fron: Mann und Mulis legen sich ins Geschirr und zerren die bis zu 60 Tonnen schweren Blöcke auf Schlitten, die sie hinab ins Tal ziehen.

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Die leidtragenden Frauen haben in der Zwischenzeit den Umzug des Toten vorbereitet. Auf ewig hat er nun seine Wertsachen am Leibe und trägt für immer ein Festtagsgewand. Bevor er aber zur Ruhe kommt, muß eine unverwüstliche Gruft errichtet werden. Übermenschliches leistet der kleine Mann im Pulk, und mit Maultierstärken haurukken die Grabbauer die Megalithen breitkant auf. Die Nordwandplatte spreizt die zwei Seitenteile. Nun bettet man den Entschlafenen in den Rohbau und schließt ihn mit dem vierten Stein ein. In diese Südfront wird eine Öffnung gemeißelt, auf daß der Geist Ausgang hat. Denn wie die Nomaden will die Seele weiterwandern. Um ihr nichts in den Weg zu stellen, ist die quadratische Luke erstes Gebot.

Dickes Ende für den Grabbautrupp: Auf dem Mega-Bau fehlen noch die Flachdächer. Um die Platten hinaufzuwuchten, muß rundherum ein Hügel her. Über diese Rampe aus Schotter und Lehm bugsieren die Bronzezeitler die größten Brocken und justieren sie auf der Gruft. Fürs eigene Seelenheil und das des Toten haben sie Berge versetzt und ein festes Haus gebaut – zufrieden ziehen sich die Hinterbliebenen in ihre Zelte zurück.

Ähnlich campiert Murat Akman. Weilt der Wissenschaftler heute am Ort der bronzezeitlichen Beerdigung, wohnt er in Umkleidekabinen. Der Bazarflekken Lalapasa, 30 Kilometer nördlich von Edirne, hat ihm als Grabungshaus das Sportheim am Fußballplatz überlassen. Die Massagepritschen sind eine Marter für müde Knochen, schonen aber den Etat. Das Häuflein Hilfskräfte aus dem Dorf bezahlt der Archäologe aus Spendengeldern. Er selbst arbeitet für ein Kebap und hält wegen der Kosten sein Team klein und kurz. „Mädchen für alles“ ist sein Neffe, zwei Studentinnen der Edirner Universität, Akmans „Mädle“, machen die Mannschaft komplett.

Der schwäbische Akzent verrät: Akman hat in Baden-Württemberg studiert und gearbeitet, zuletzt am Badischen Landesmuseum in Karlsruhe. Das deutsche Nummernschild an seinem Geländewagen hätte ihm hier beinahe die Tour vermasselt. Denn wo früher die Steppenvölker frei umherstreiften, verläuft heute die Grenze zwischen der Türkei und Bulgarien. Ausgerechnet im türkischen Sperrgebiet liegt die Region der megalithischen Friedhöfe. In diese verbotene Zone wollte Akman aber mit aller Gewalt. Also überfiel er die Offiziere: mit Vorlesungen – so lange, bis sie ihm den Passierschein zur alten Unterwelt gaben. Ungehindert wäre er weiter suchend über die Heide geholpert, hätte ihn nicht an diesem Sommertag noch ein Pkw mit D-Plakette begleitet. Der Archäologe will den Besuchern aus der Wahlheimat – bdw-Autorin mit Fotograf – seine Funde zeigen. Doch die Streitmacht stellt sich quer. Im neuerlichen Konflikt mit der Staatsmacht vermittelt der Kaymakam von Lalapasa.

Der staatlich bestallte Ortsvorsteher ist jung und allem Fortschritt zugetan. In den Hünengräbern sieht er die künftige Touristen-Attraktion. Dafür betreibt er nun Diplomatie auf orientalisch. Für Murat Akman und seine Gäste bedeutet dies Stunden des Abwartens – und viel Tee zu trinken. Zu guter Letzt drücken die Grenzschützer auch bei zwei zivilen und zudem fremden Autos ein Auge zu.

Im Schattenreich des thrakischen Hinterwaldes – heute im Triangel Bulgarien-Griechenland-Türkei – scheint die Bronzezeit stehengeblieben zu sein. Die Bauern weben weiter aus Ruten ihre Katen, ganz wie in den Gründerjahren der Seßhaftigkeit vor vielen tausend Jahren. Störche treten in Schwärmen auf, unter dem endlosen Himmel vergolden Sonnenblumen die Weiten bis zum verwischten Horizont. Da und dort kreisen die Blumen Kuppen ein – Tarnkappen für die Grabhügel der bronzezeitlichen Nomaden. Während diese „Tumuli“ noch ungezählt sind, kann Murat Akman die nackten Steinschreine beziffern: Über 70 hat er hier im Niemandsland ausfindig gemacht, doch ist er noch weit vom Resultat der bulgarischen Archäologen entfernt. Seine Kollegen jenseits der Grenze haben vor 100 Jahren mit der Inventur begonnen und können bis dato das Zehnfache der großklotzigen Gräber verbuchen. Seit 1980 stöbert Akmann zunächst mit seinem Lehrer, dem Vorgeschichtler Mehmet Özdogan, durch die grabträchtige Pampa. Das Edirner Museum ebnet ihm den Weg und bei der Pirsch spannt der Archäologe die Jäger und Schäfer der Gegend ein. Wo Luchs und Hase sich gute Nacht sagen, kennen die Steppenläufer jeden Stein – und vor allem die „Steine mit Deckel“, Kapaklikaya in ihrer Muttersprache.

Der Grab-Forscher darf keine Zeit verlieren, denn die Zeugen der Bronzezeit sind bedroht. Immer mehr Bauern steigen auch hier vom Esel auf den Traktor um, und fürs neue Vehikel brauchen sie breitere Wege. Bulldozer walzen die Wildnis nieder und machen auch vor den Gräbern nicht halt. Vor dem Zusammenstoß von Einst und Jetzt will Akman die steinernen Zeugen der vorgeschichtlichen Jenseitsvorstellungen dokumentieren, „damit sie wenigstens im Bild und auf dem Papier überdauern“.

Die Megalithen (griechisch: „Gräber aus großen Steinen“) stehen für erste Religiosität, die bereits in Neandertal Anhänger hatte. Schon vor 80000 Jahren bannte man die Angst vor dem Tod mit metaphysischen Vorstellungen vom Jenseits. Schlief der Verstorbene einen langen Schlaf? War seine Seele hellwach und auf dem Posten? Beobachtete sie die Trauernden, ihr Tun und Lassen? Die Hinterbliebenen mußten sich absichern.

So sind die gewaltigen Steingräber Ausdruck einer zwiespältigen Ahnenverehrung und zugleich Hinweis auf die damalige Sippenstruktur – nämlich eine bereits ausgeprägt hierarchische Gesellschaft mit Oberhaupt und Arbeitsteilung. Die schier übermenschliche Plackerei, die für den Grabbau nötig war, erforderte zudem einen übergeordneten Gestaltungswillen – sei er religiös-geistigen Ursprungs oder gespeist aus bloßer Machtdarstellung des Herrschers.

Nach schlichten Grottenbestattungen in der Vorzeit schafft der Mensch ab dem 10. Jahrtausend v. Chr. erste Leichenheime aus Steinplatten, die immer weiter verfeinert werden. Mit den Pyramiden treiben die Ägypter ab 3000 v. Chr. die Totenverehrung auf die Spitze. Um die gleiche Zeit boomt der megalithische Grabbau in Europa. Dolmen (keltisch: „Steintische“), hier die älteste Form der Megalithgräber, flankieren bald den Atlantik von Schottland bis nach Portugal (siehe Karte). Wie im Land der Pharaonen hat man Obelisken, die im Norden allerdings etwas ungeschlacht ausfallen. Diese „Menhire“ sind die Grabmale der Vorzeit und frieden im großen Rund frühe Heiligtümer oder Grabanlagen ein. Sie sind bearbeitete Monolithe, die manchmal zu Figuren stilisiert werden.

In Thrakien stehen sie nackt herum, ohne Bezug zu einem Grab, aber in einem deutlich kultischen Zusammenhang. An den Küsten des Schwarzen Meeres werden ab 2500 v. Chr. die Totenäcker kultiviert. Mit ausgefeilterem Stil beerdigt man allerdings erst ausgangs der Bronzezeit – ab 1150 v. Chr. – in Thrakien, wo heute Murat Akman die Spuren der frühen Menschheit zu sichern sucht.

Im Morgenland ging das Licht der europäischen Zivilisation auf: „Ex oriente lux“ (Aus dem Osten kommt das Licht), so der Philologenspruch, der sich allerdings weitgehend auf die (spätere) griechische Kultur einengt. Europa begann – archäologisch gesichert – tatsächlich vor rund 12000 Jahren im Vorderen Orient. Deshalb galt bislang, daß auch Megalithkultur und -technik aus dem Orient stammen.

Die Funde in der thrakischen Einöde lassen jetzt eine neue Deutung zu und streichen Balsam auf das verletzte mittel- und westeuropäische Kulturbewußtsein. Der Anatolien-Experte Prof. Harald Hauptmann meint vorsichtig: „Der Gedanke ist gar nicht so abwegig, daß Alteuropa an der Entstehung der Megalithen-Kultur Anteil hatte.“ Der Leiter des Deutschen Archäologischen Instituts in Istanbul kennt sich mit Religiosität und Kult in der Vorzeit aus: Er hat im Herzen der Türkei den bislang ältesten Tempelbau gefunden – Nevali Cori, 11000 Jahre alt, inzwischen im Atatürk-Staudamm ertrunken (bild der wissenschaft 6/1992, „Gott in der Steinzeit“).

Der ausgeprägte Kult mit den großen Steinen für religiöse oder mythische Sinnstiftung jedoch ist im Abendland (Okzident) stärker vertreten als im östlichen Mittelmeerraum: Ex okzidente ein bißchen lux?

Murat Akman geht mit Hauptmanns fachlicher wie finanzieller Unterstützung nicht nur übers Land, sondern auch in die Tiefe – seine Grabung in Lalapasa ist eine Rettungskampagne: Das Dach eines Paradegrabes war aus dem Lot geraten, und das Dorf rückte gefährlich nah an den Tumulus. Der Forscher nahm den Hügel in Beschlag und wies ihn mit Unterstützung aus Edirne als museales Schutzgebiet aus. Doch um sehenswert zu sein, mußte das Grab erst ansehnlich werden, und so ließ er es wieder auferstehen. Das Umfeld wurde gesäubert. Ein Stahlgerüst sichert die Deckenplatten, die diesmal ein Kran auf die Kammern hob.

Danach fing für den Archäologen die Arbeit an, denn die eingestürzten Ein-Stein-Dächer hatten Skelette und Scherben unter Verschluß gehalten. Für die detaillierte Untersuchung der Skelette fehlt es bislang an Zeit und Geld, wobei man streiten mag, woran es mehr mangelt. Sicher aber ist nach dem ersten Augenschein: Bei der Sippengruft der frühgeschichtlichen Weiden-Wanderer kam wohl nur die hochgestellte Einweihungsleiche ohne Post-mortem-Tortur davon. Wer später starb, wurde unsanft durchs enge Seelenloch in die Grabkammer gepreßt. Von etwa 1150 v. Chr. bis ins 6. Jahrhundert v. Chr. schob man so Tote nach, brachte sie aber auch schon in Urnen und Steinkisten unter die Erde des Tumulus – ein Grabhügel für viele Verstorbene und unterschiedliche Bestattungsriten.

Die Keramikausbeute des Grabes war spärlich, aber aufregend: Der Archäologe förderte Kannen des anspruchslosen „Buckelstils“ zutage, bei denen die Oberfläche vorsätzlich mit buckligen Auswüchsen verziert ist. Spannend wird der Fund dadurch, daß die Keramik völlig identisch ist mit Gefäßen, die man aus den Schuttschichten von Troja VII geborgen hat. War hier in Thrakien ein Volksstamm seßhaft geworden, der zuvor im Troja des Niedergangs gelebt hatte?

Zum Abend-Kebap trudelt das kleine Grabungsteam in der einzigen Garküche am Platze ein, wo man auch die Morgensuppe trinkt und mittags sich hauptsächlich an Wasser labt. Die Archäologen-Mensa ist auch Chefzimmer: Nach Sonnenuntergang hat hier Murat Akman seine Sprechstunde.

Ein Hirte wartet und erzählt aufgeregt von einem aufgebrochenen Grab. Der Wissenschaftler stellt sein Essen warm und fährt noch einmal in die Pampa. „Grabräuber gab½s schon in der Antike“, übertönt er den Motor. „Doch an den neuen Plündereien sind wir indirekt schuld. Weil wir uns jetzt verstärkt für die Dolmen interessieren, vermuten die Einheimischen in ihnen Schätze.“ Und sie versuchen sich als Grabräuber. Der abendliche Trip erbrachte ein unbekanntes, kleines und leergeräumtes Grab in einem Tumulus. Archäologen-Alltag.

Wieder zu Tische im Freien, staubt ein Armeejeep heran. Der Leutnant der türkischen Grenztruppen ist abermals aufgebracht. Ihm ist gemeldet worden, ein Papierdrachen mit Kamera sei über dem Grabungsareal gekreist. Luftaufnahmen sind strengstens verboten! Murat Akman schiebt seinen vollen Teller beiseite und erläutert dem Militär die Notwendigkeit dieser Fotos: „Wenn die Gräber mal nicht mehr sind, haben wir wenigstens die Bilder.“ Dann raucht er mit dem Befehlshaber eine Friedenszigarette.

In Ruhe möchte er an seinem Schlummer-Raki nippen, doch aus Istanbul kündigen sich telefonisch Wissenschaftler fürs Wochenende an. Und seine Zukunftswünsche muß er gegenüber Journalistin und Fotograf auch noch loswerden. Murat Akman läßt sich schwer auf das Binsenstühlchen fallen: „Eigentlich sollte hier alles beim alten bleiben, bis auf die Finanzen. Wären die üppiger und der Fortschritt geringer, könnten wir die Friedhöfe erhalten. „

Waltraud Sperlich

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