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Die Unbefangenen

Allgemein

Die Unbefangenen
Die Mehrheit der Jugendlichen in den frühen sechziger Jahren ist zufrieden und streckt die Füße unter Mutters Tisch. Auch gegen Vietnamkrieg und Schahbesuch demonstriert nur eine Minderheit. Sexualität ist ein Tabu-Thema.

Studenten-Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg der USA, Proteste gegen den persischen Schah in Berlin, die Bildung einer Außerparlamentarischen Opposition (APO) gegen die Große Koalition in Bonn – die Jugend übte den Aufstand. Sie verfolgte ihre Visionen von einer besseren Welt. Die Jugend der sechziger Jahre, geboren zwischen 1940 und 1950, schrieb ein Stück bundesrepublikanische Geschichte.

Aber es war nur eine Minderheit, die große Masse der Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 15 und 24 Jahren hatte mit Politik wenig am Hut, so ein Ergebnis der einzigen Shell-Jugendstudie aus den sechziger Jahren, die das EMNID-Institut für Sozialforschung 1966 präsentierte. Nur 9 Prozent der 2380 Befragten interessierten sich „sehr“ für Politik und gerade mal 24 Prozent „durchaus“, zwei Drittel aber „nicht so sehr“, „kaum“ oder „gar nicht“. Und: Die Jugendlichen verstanden Politik eindeutig als Männerdomäne: „Politik ist keine Sache für Frauen.“

Noch geringer war die Bereitschaft, selbst aktiv in die Politik einzusteigen. Die junge Generation verweigerte „eine Mitarbeit in den Strukturelementen der demokratischen Herrschaftsform, obwohl sie Letztere im Prinzip bejaht“, resümierte Viggo Graf Blücher. Der Leiter der Shell-Jugendstudie 1966 beschrieb die Jugend als die „Generation der Unbefangenen“. Soziale Hilfsbereitschaft stand schichtübergreifend hoch im Kurs: Bei einer Überschwemmungskatastrophe wären – laut Befragung – 80 Prozent der jungen Leute den Flutopfern zu Hilfe geeilt und hätten tatkräftig zu Eimer und Schaufel gegriffen, statt auf den Einsatz von Behörden und Fachleuten zu warten.

Bildung spielte in der Studie eine untergeordnete Rolle. Die Meinungsforscher erkundeten nur, welche Aufgabe die Schule verfolgen sollte, und ob die Berufstätigen sich gut auf ihren Job vorbereitet fühlten. Ergebnis: Wichtig war den Teens und Twens vor allem die Vermittlung einer „umfassenden allgemeinen Bildung“ sowie von Fähigkeiten, „die später überall verwendet werden können.“ Daneben rangierten Fleiß, Anpassungsvermögen und eigene Fähigkeiten auf der Skala der „wichtigen Qualitäten für den Lebenserfolg“ ganz oben. Die Jugend der frühen sechziger Jahre war eine Generation von Nesthockern, die die Bequemlichkeiten der elterlichen Wohnung zu schätzen wussten: Knapp vier Fünftel stellten ihre Füße unter Mutters und Vaters Tisch. Und: 73 Prozent waren der Meinung, in den elterlichen vier Wänden sei es auch am besten. Das traf vor allem auf Lehrlinge zu, die sich mit ihren paar Mark Ausbildungsvergütung keine eigene Bude leisten konnten. Aber auch Studenten und junge Beamte wohnten Mitte der sechziger Jahre noch gern in ihrem ehemaligen Kinderzimmer.

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Die 15- bis 24-Jährigen waren mit ihren Eltern insgesamt zufrieden. Fast drei Viertel meinten, die Eltern würden sich in „ gerade richtigem“ Maß in ihre Angelegenheiten einmischen. In punkto Moral zeigte sich die Jugend zu Beginn der Sechziger eher konservativ. Die äußerst vorsichtig formulierte Frage zur vorehelichen Sexualität wurde nur den über 18-Jährigen gestellt. Das Ergebnis: 20 Prozent hielten voreheliche Erfahrungen für richtig. „Nur mit dem künftigen Ehepartner sind die gut“ sagten 34 Prozent. 11 Prozent waren strikt dagegen.

Ihr Freizeit verbrachten die Jugendlichen mit Lesen und vor dem Radio, aber auch schon vor dem Fernseher. Die große Mehrheit schwang gerne das Tanzbein. Der zeitlose Walzer und Twist – der Modetanz aus Amerika, ebenso populär wie verpönt – lagen auf der Beliebtheitsskala gleichauf. Die überwiegende Mehrheit war mit ihrem Leben rundum zufrieden und blickte optimistisch in die Zukunft. Nur eine Minderheit suchte nach Abgrenzung von Werten und Lebensweise der Elterngeneration und begann den „langen Marsch durch die Institutionen“.

Die Protestler

Mit den Eltern kommen sie gar nicht mehr zurecht, und Anlass zu demonstrieren gibt es genug. Politisches Engagement ist angesagt. Gleich- zeitig will die Jugend der achtziger Jahre am liebsten „aussteigen“.

Sie besetzten zum Abriss verdammte Häuser, gründeten bei Gorleben ein Anti-Atomdorf und demonstrierten massenhaft gegen die Raketennachrüstung in Deutschland. Die Jugend mischte zu Beginn der achtziger Jahre kräftig mit. Sie blickte überwiegend sorgenvoll in die Zukunft: 58 Prozent schätzten ihre Aussichten „ eher düster“ ein. Mitte der achtziger Jahre waren die Optimisten leicht in der Überzahl. Dennoch fühlten sich große Teile der Jugendlichen als „verunsicherte“ und „No-Future- Generation“. Erwachsene, die in der Shell-Studie 1985 erstmals zu Wort kamen, sahen in ihren Kindern dagegen eine „verwöhnte Protestgeneration“ .

Das Unverständnis war gegenseitig: 88 Prozent der 15- bis 24-Jährigen waren der Meinung, dass „Erwachsene von Jugendlichen etwas lernen können“ und 7 von 10 meinten, Jung und Alt kämen im Allgemeinen weniger oder überhaupt nicht gut miteinander aus. Fast die Hälfte wollte „mit der Erziehungstradition ihrer Eltern brechen“, so das Autorenteam um den Frankfurter Sozialwissenschaftler Arthur Fischer. Die „besorgten“ Jugendlichen drehten jedoch nicht einfach Däumchen, sie sympathisierten mit Protestbewegungen und engagierten sich auch selbst. Die junge Generation bekundete eine Aufgeschlossenheit für Politik wie nie zuvor : 55 Prozent bejahten die Frage nach dem politischen Interesse. Die noch jungen Grünen/Alternative Liste waren in der Studie 1985 bei den politisch Interessierten besonders beliebt. Ihre Anhänger brachen am stärksten mit alten Werten: Fleiß, Ordnung oder Sauberkeit hielten mehr als die Hälfte der „grünen“ Jugendlichen für nicht erstrebenswert. Auch Sparsamkeit oder gute Umgangsformen war vielen nicht wichtig. Hoch im Kurs standen Werte wie „neue Lebensformen finden“ oder „ aus Sachzwängen ausbrechen“.

Vor allem ältere Jugendliche mit besserer Schulbildung, die sich den Protestgruppen zurechneten, träumten 1981 vom Leben in einem Fischerdorf ohne Industrie oder in einem einsamen Blockhaus am Wald. Obwohl viele Jugendliche in den achtziger Jahren vom Aussteigen träumten, befürworteten sie mehrheitlich den „ konventionellen Lebensentwurf“ mit Ehe und Familie. Nur 13 Prozent schlossen 1981 eine Heirat für sich aus und gerade 7 Prozent wollten nicht Mama oder Papa werden. Von den Eltern trennten sich die Jugendlichen trotz aller Kritik nicht viel schneller als andere Generationen. Gut zwei Drittel wohnten weiter zu Hause.

Die westdeutsche Jugend der achtziger Jahre lässt sich nicht pauschal zur Protestjugend stempeln. Es gab auch den so genannten Popper mit Seitenscheitel sowie unterschiedliche Fan-Gruppen, „ die sich auf jugendliche Kultgegenstände wie Motorrad oder Musik beziehen“. Aber es war die Protestjugend, die dem Jahrzehnt ihren Stempel aufdrückte. Zu Recht, wie die Shell-Forscher 1985 meinten: „Diese Generation provozierte eine in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland herausragende Generaldebatte über Jugend, die die … vorangegangenen Jugenddebatten … an Umfang und prinzipiellem Gewicht deutlich übertrifft.“

Die Pragmatiker

Karriere machen und heiraten, lautet die Jugend-Devise zu Beginn des 3. Jahrtausends. Dafür wird zielstrebig gearbeitet. Für politisches Engagement ist da kein Platz.

Steigende Arbeitslosigkeit, weniger Lehrstellen, Einsparungen in allen staatlichen Bereichen – die Jugend der Jahrtausendwende wächst nicht in rosigen ökonomischen Zeiten auf. Trotzdem: Die meisten jungen Leute blicken optimistisch in ihre persönliche Zukunft. Dabei sind die Teens und Twens im Westen etwas hoffnungsfroher als ihre Altersgenossen im Osten, denen die Forscher um den Frankfurter Sozialwissenschaftler Arthur Fischer in der Shell-Jugendstudie 2000 jedoch bescheinigen, aufs Ganze gesehen einsatzbereiter, höher motiviert und leistungsorientierter zu sein.

„Aufsteigen statt aussteigen“ lautet ein Motto der Jugendlichen. Und so sind sie weniger gesellschaftskritisch oder an allgemeinverbindlichen Werten orientiert als frühere Generationen. Dafür steht die „Ich-AG“ hoch im Kurs. „Tolles Aussehen“ und „Markenkleidung“ sind vielen wichtig. Die Jugendlichen gehen ihr Leben pragmatisch an, sind überzeugt von ihrer persönlichen Leistungsfähigkeit und willens, die eigenen Vorstellungen reibungslos durchzusetzen. Ihre Ziele haben die jungen Leute klar vor Augen: eine eigene Familie gründen und Karriere machen. Dass „Fleiß und Ehrgeiz“ dabei hilfreiche Tugenden sind, meinen 75 Prozent von ihnen. Wie wichtig Bildung ist, um auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen, haben die Mädchen und Jungen erkannt. Obwohl nur gut ein Drittel „gerne“ oder „sehr gerne“ zur Schule geht, büffelt etwa die Hälfte für das Abitur oder eine fachgebundene Hochschulreife.

Vor allem Mädchen sind im Bereich der Schulbildung auf der Überholspur. Technik ist zwar noch immer kein weibliches Steckenpferd, aber in andere Männerdomänen brechen die jungen Frauen stärker ein. „Karriere machen“, „Verantwortung übernehmen“ und „sich selbstständig machen“ ist für sie ebenso erstrebenswert wie für junge Männer. Nur gut ein Drittel aller Jugendlichen ist an Politik interessiert, ein mageres Viertel hält es für wichtig, sich aktiv in die Politik einzumischen. Junge Frauen sind politisch desinteressierter als ihre männlichen Zeitgenossen. „ Politisches Engagement ist heute kein Selbstzweck mehr und schon gar kein Königsweg zur ‚persönlichen Emanzipation‘ „, sagen die Autoren der Shellstudie „Jugend 2002“ um den Bielefelder Sozialwissenschaftler Prof. Klaus Hurrelmann.

Mit der demokratischen Staatsform ist die Mehrheit der 12- bis 25-Jährigen zufrieden. Allerdings klaffen Ost und West weit auseinander, was die Beurteilung der Demokratie in Deutschland betrifft: In den alten Bundesländern bekunden gut zwei Drittel mit dem gesellschaftlichen System „eher“ oder „sehr zufrieden“ zu sein. Die Jugend in Ostdeutschland ist skeptischer: 51 Prozent sind „eher“ oder „sehr unzufrieden“ mit der Demokratie, „so wie sie in Deutschland besteht“. Noch stärker als die Staatsform wird im Osten der Zuzug von Ausländern abgelehnt. Gut zwei Drittel der ostdeutschen Jugendlichen meinen, dass zu viele Ausländer im Lande lebten. Im Westen sind rund 60 Prozent dieser Meinung.

Ihre Freizeit nutzen die Jugendlichen, um sich mit Freunden zu treffen, vor Fernseher oder Computer zu hocken, Sport zu treiben oder zu lesen. Vom Bildungsstand ist abhängig, wer welches Hobby bevorzugt. Hauptschüler zum Beispiel verbringen ihre Zeit häufig mit Fernsehen, dem PC oder „Nichts-tun“. Im Internet surfen oder lesen ist bei ihnen wenig beliebt. Die Vorzüge ihres Elternhauses schätzen die Jugendlichen weiterhin. Mädchen und junge Frauen nabeln sich zwar eher von Mama und Papa ab, doch immerhin 71 Prozent leben noch im vertrauten Umfeld. Von den jungen Männern zwischen 18 und 21 Jahren lassen sich dagegen 81 Prozent im „ Hotel Mama“ verwöhnen.

Die große Mehrheit der Jugend schreibt den Eltern ein gutes Zeugnis. Sie sind ihnen Partner und Vertrauenspersonen, auf die sie sich verlassen können. Elterliches Zutrauen, so folgern die Autoren der Studie „Jugend 2000″, ist die „wichtigste Bedingung für eine gute Ausrüstung und Motivation, das Leben in die Hand zu nehmen und sich zuzutrauen, die Schwierigkeiten zu meistern.“ Das scheint in dieser Generation geklappt zu haben, schließlich sind die meisten Heranwachsenden zu Beginn des 3. Jahrtausends optimistisch – trotz Wirtschaftsflaute.

Kathryn Kortmann

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