Anzeige
1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite »

Ein Kontinent geht Pleite

Allgemein

Ein Kontinent geht Pleite
Seit 40 Jahren versuchen die Staaten Lateinamerikas mit ständig wechselnden Wirtschaftstheorien, den Anschluss an die industrielle Entwicklung zu finden. Bislang vergeblich. Lateinamerika – Spielwiese für Besserwisser?

„Wegen dir verhungern wir!“ Eine Schar von Angestellten, Arbeitslosen und Straßenverkäufern marschiert durch das Wohnviertel der argentinischen Kleinstadt San Francisco in der Provinz Córdoba. Das Trommeln auf den verbeulten Kochtöpfen verstummt – die aufgebrachten Menschen werfen Farbbeutel und faule Eier auf einen Bungalow: die Familienresidenz des ehemaligen Finanzministers Domingo Cavallo (1992 bis 1996 und 2001).

Er hätte nicht tiefer fallen können – der Harvard-Abgänger, Star der internationalen Wirtschaftsszene und Architekt der argentinischen Währungsstabilität. „El Superministro“ hatte den Nachbarstaaten das argentinische Entwicklungsmodell schmackhaft gemacht: Privatisierung der Staatsbetriebe, Liberalisierung des Kapitalverkehrs, Anbindung des Peso an den Dollar – per Gesetz.

Die südamerikatypische Hyperinflation und Schuldenkrise schienen überwunden. „Die Parität mit dem US-Dollar sollte dessen Stabilität importieren, das wirtschaftliche Wachstum mit der Förderung von Kapitalimporten finanziert werden“, beschreibt Barbara Fritz vom Institut für Iberoamerika-Kunde in Hamburg das Konzept.

Horst Köhler, Chef des Internationalen Währungsfonds (IWF), begeisterte sich noch im Mai 2001 für die Politik von Cavallo. Doch schon im November 2001 warnte die Financial Times: „Es hat keinen Sinn, einem Land Geld zu geben, das keine Chance mehr hat, einen Zugang zu den Weltmärkten zu finden.“ Tage später bricht das Lebenswerk des 57-jährigen Cavallo zusammen: Die frustrierte Bevölkerung blockiert Landstraßen und plündert Supermärkte. Das Land am Río de la Plata ist unregierbar. Fünf Präsidenten geben einander in einem Monat die Klinke in die Hand.

Anzeige

Ob der Übergangs-Staatschef Eduardo Duhalde eine Wende herbeiführen kann, erscheint fraglich. Außenverschuldung des einstigen Vorzeigelandes: 226 Milliarden US-Dollar, Arbeitslosenquote: 18,3 Prozent, Anteil der Bevölkerung unter der Armutsgrenze: 40 Prozent – der Musterschüler des IWF ist bankrott. Ein neues Erfolg versprechendes Wirtschaftsmodell ist nicht in Sicht. „Argentinien könnte in Kleinstaaten auseinander brechen“, befürchtet Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel: „Die einheimische Industrie ist zerstört. Wir erleben den moralischen und ethischen Niedergang der Bevölkerung.“

In Brasilien, dem größten Staat des Kontinents, sieht es nicht besser aus – Außenverschuldung: 237 Milliarden US-Dollar, Arbeitslosenquote: 10 Prozent, Arme: 25 Prozent. Internationale Entwicklungsexperten sind mit ihrem Latein am Ende. Horst Köhler vom IWF gesteht ein: „Wir können nicht so weitermachen wie bisher. Die Gesellschaft in den reichen Ländern muss umdenken, sie ist zu egoistisch.“

Seit der Sklavenführer François Dominique Toussaint L’Overture 1801 in Haiti die Unabhängigkeit von der spanischen Kolonialherrschaft verkündete, basteln die Lateinamerikaner an verschiedenen Entwicklungsmodellen für ihre Länder – amerikanische und europäische Consultants unterfütterten sie in den letzten Jahrzehnten mit ideologischem Überbau und angeblichen Patentrezepten, die da heißen:

• Entwicklungsfokus,

• Dependencia-Theorie,

• Neoliberalismus.

Doch welches Programm in den vergangenen 40 Jahren auch angewendet wurde: Bislang hat jedes – pervertiert durch korrupte einheimische Eliten – die Umweltzerstörung, Verstädterung, Misswirtschaft und Verarmung in Südamerika verstärkt.

Der Entwicklungsfokus Staudämme im Niemandsland

21. April 1960: „Dies ist der wichtigste Moment in meinem politischen Leben.“ Der brasilianische Präsident Juscelino Kubitschek hisst die Nationalflagge auf dem Platz der drei Gewalten in Brasilia. Die Einweihung der neuen, am Reißbrett entworfenen Hauptstadt im Sertão, dem unbesiedelten Inlandsplateau, soll „das Niemandsland erblühen lassen“, versprach Kubitschek damals, der in 5 Jahren Amtszeit 50 Jahre Entwicklung nachholen wollte.

Und heute? „Brasilia wird von einem gigantischen Armutsgürtel erdrosselt“, konstatiert die Urbanistin Tânia Battella von der Architektenvereinigung IAB (Instituto de Arquitetos do Brasil): Über 2,5 Millionen Menschen – Landlose, Tagelöhner und Kleinbauern aus dem Umland – schlagen in den letzten ökologischen Nischen der Sumpfgebiete ihre Hütten auf. Battella: „Diese Menschen leben im Müll.“

Rauchende Schornsteine, ausländisches Kapital und Westkultur – die Theorien des Entwicklungsfokus hatten zunächst Erfolg: Die brasilianische Wirtschaft wuchs in den sechziger Jahren jährlich um 7 Prozent, die Industrieproduktion nahm um 80 Prozent zu. Das brasilianische Wirtschaftswunder reizte die Nachbarstaaten Uruguay, Argentinien, Paraguay und Peru zur Nachahmung: Staudämme, Eisenhütten, Ölförderanlagen und Großfarmen schossen aus dem Boden, eine Entwicklung nach europäischem Vorbild sollte auch hier Wohlstand für alle zaubern.

„Entwicklungsfokus? Dieses Konzept ist längst widerlegt“, blickt Glenn Switkes von der Selbsthilfeorganisation International Rivers Network in Berkeley auf die Modernisierungswelle zurück und schildert das Scheitern mit einem typischen Beispiel: „Das Wasserkraftwerk Tucuruí im brasilianischen Amazonas sollte nach den Plänen der siebziger Jahren einen Entwicklungsboom um die Stadt Belem auslösen.“ 1999 zog eine Studie der unabhängigen Welt-Kommission für Dämme Bilanz: 14000 Menschen haben ihren Wohnplatz in der Region Belem verloren, das Wasser des 2850 Quadratkilometer großen Staubeckens gärt – ein idealer Lebensraum für Malariaüberträger.

„Zwei internationale Aluminiumfabriken haben von Tucuruí profitiert – sonst niemand“, urteilt Glenn Switkes. „Der Entwicklungspol am Tucuruí ist ein ökologisches und soziales Katastrophengebiet: abgeholzte Wälder, Landkonflikte und wuchernde Satellitenstädte ohne Infrastruktur.“

Die Dependencia-TheorieDas südamerikanische Eigengewächs

Wie Dominosteine fallen die südamerikanischen Demokratien in den siebziger Jahren: 1971 putscht Oberst Hugo Banzer in Bolivien, General Augusto Pinochet marschiert 1973 in Santiago de Chile ein, 1976 übernimmt General Jorge Rafael Videla die Macht in Argentinien.

Eine „Allianz für den Fortschritt“ hatte US-Präsident John F. Kennedy der Region 1961 versprochen. Doch aus dem Modernisierungsschub wurde nichts. Der Argentinier Raúl Prebisch macht für die mangelnde Entwicklung Südamerikas einen Hauptschuldigen aus: die Ausbeutung durch den internationalen Handel. Der Leiter der UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika behauptet, dass der Verfall der Exportpreise etwa für Zucker und Kaffee eine nachhaltige Entwicklung der riesigen Region verhindere.

Doch wie können die Latinos den Aufschwung erreichen? Darüber schweigen sich die Dependencia-Theoretiker aus — vor einer Abkoppelung vom Weltmarkt scheuen sie zurück. Alán García, peruanischer Präsident von 1985 bis 1990, hatte sich von den Dependencia-Autoren inspirieren lassen: Einstellung der Schuldentilgung, protektionistische Abschottung der Märkte, staatliche Subventionen für die einheimische Produktion, Anreize für den privaten Konsum – seine populistischen Maßnahmen kurbelten die Wirtschaft kurzfristig an. Ab 1987 kam der Umschwung: Hyperinflation, fehlende Investitionen, internationaler Druck und der Guerrilla-Krieg zwangen den jungen Rechtsanwalt zur Rückkehr zum Handelsliberalismus.

Die These von den ungerechten Handelsbedingungen ist nie empirisch belegt worden und reichen zur Erklärung der anhaltenden Armut in Südamerika auch nicht aus. Die Dependencia-Theorie blieb ein weitgehend folgenloses lateinamerikanisches Theoriegewächs.

NeoliberalismusMehr Markt – mehr Ungleichheit

„Die lateinamerikanischen Regierungen lösten in den letzten 10, 15 Jahren die tiefsten wirtschaftlichen Veränderungen der Nachkriegszeit aus“, beschließen Barbara Stallings und Wilson Peres ihre Studie „The impact of the economic reforms in Latin America“. In fast allen südamerikanischen Staaten wurden die Handelsbarrieren aufgehoben, die staatlichen Betriebe privatisiert, die Finanzmärkte für ausländische Investoren geöffnet. „Das protektionistische Modell der Dependencia wurde von der schrankenlosen Marktöffnung abgelöst“, so die beiden Experten.

Und was hat die drakonische Liberalisierungswelle den Latinos in dieser Zeit gebracht?

• Seit 26 Jahren lebt Bischof Pedro Casaldáliga im brasilianischen Amazonasgebiet unter Indios. Für ihn ist die wirtschaftliche Freizügigkeit Teufelszeug. Sein harsches Urteil: „ Neoliberalismus ist die Anbetung des Todes. Die Theologen des Warenverkehrs glauben, 15 Prozent der Menschheit dürfen leben – die Mehrheit soll verschwinden.“

• Barbara Stallings und Wilson Peres analysieren Argentinien, Bolivien, Chile und Peru – Länder mit einer ausgeprägt neo-liberalen Wirtschaftspolitik. Fazit: „Diese Reformen hatten kaum positive Auswirkungen auf Investitionen und Wachstum. Dagegen gibt es mehr Arbeitslose und höhere Einkommensunterschiede.“

• Der chilenische Ökonom Ricardo Ffrench-Davis beurteilt die Reformen in Chile, dem Musterland des Neoliberalismus: „Zwar sind die Zeiten der Hyperinflation und der fehlenden Steuereinnahmen überwunden. Aber das krankhafte Vertrauen in das freie Spiel das Marktes hat bei uns großen Schaden angerichtet: explodierende Zinsen, negative Außenhandelsbilanz, schwindende Investitionen in die nationale Industrie. Von dem hohen Wirtschaftswachstum der neunziger Jahre profitierten fast nur Einkommensstarke.“

• Der Einfluss der internationalen Finanzkonsortien auf die Sozialpolitik in Lateinamerika nehme stetig zu, bedauert Werner Rostan, Lateinamerika-Referent bei der Organisation Brot für die Welt: „IWF und Weltbank schließen bei Verhandlungen über Entschuldungsstrategien in Bolivien, Nicaragua oder Honduras die Zivilgesellschaft aus – obwohl gerade die Bürger die Hauptlast der Schulden zu tragen haben.“

Als „Kontinent der Gegensätze“ preisen Reiseveranstalter Südamerika gerne an: Traumstrände, atemberaubende Landschaften und exotische Kulturen locken jährlich rund 58 Millionen Touristen.

Doch Lateinamerika zerbricht an seinen Kontrasten: Brasilianische Geschäftsleute entrinnen dem Verkehrschaos in São Paolo mit dem Hubschrauber. Guerrilleros blockieren in Kolumbien die wichtigsten Handelsstraßen. 100 Millionen Kleinbauern hungern im lateinamerikanischen Hinterland – 10 Prozent mehr als 1997.

Jungen Latinos bleibt da nur die persönliche Utopie: Die Übersiedlung nach Europa oder in die USA. Der mexikanische Student Pablo Gomez bekam von seinem Tutor an der Mexikanischen Nationaluniversität den Rat: „Du bist zu begabt – wandere aus!“

Gregor C. Barie

Anzeige

Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

  • Wie kann die Wissenschaft helfen, die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern?
  • Was werden die nächsten großen Innovationen?
  • Was gibt es auf der Erde und im Universum noch zu entdecken?

Hören Sie hier die aktuelle Episode:

Aktueller Buchtipp

Sonderpublikation in Zusammenarbeit  mit der Baden-Württemberg Stiftung
Jetzt ist morgen
Wie Forscher aus dem Südwesten die digitale Zukunft gestalten

Wissenschaftslexikon

Koh|len|was|ser|stoff  〈m. 1; unz.; Chem.〉 ausschließlich aus Kohlenstoff u. Wasserstoff aufgebaute chemische Verbindung

Klap|pen|horn  〈n. 12u; Mus.〉 trompetenförmiges Signalhorn mit sechs Klappen

Zäpf|chen  〈n. 14〉 1 kleiner Zapfen 2 〈Anat.; kurz für〉 Gaumenzäpfchen … mehr

» im Lexikon stöbern
Anzeige
Anzeige
Anzeige