Gerade auch in der Religionsgeschichte hat das vergangene Jahrhundert einiges zu bieten, was bisher selten thematisiert wurde. Das macht die Geschichte der Familie Oettinger, die von Glaubenskonversionen geprägt ist, so spannend. Über einen Zeitraum von 180 Jahren (von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die heutige Zeit) nimmt die Religionshistorikerin Gerdien Jonker diese Familie in den Blick. Neben ihrer aufwendigen Recherche dienten der Autorin vor allem die Berichte der noch lebenden Generation und das Familienerbe als Grundlage. Dieses besteht aus einer großen Sammlung an Erinnerungsgegenständen und Fotografien, die ein Spiegel der verschiedenen Generationen und Kulturen sind.
Die Oettingers waren zunächst eine typisch jüdische Familie, die im preußischen Marienwerder lebte. Doch schon bald lassen sich erste Brüche mit der bisherigen Lebensführungen erkennen, da die Familie sich langsam der christlichen Kultur anpasste. Diese Entwicklung ist Ende des 19. Jahrhunderts bei vielen jüdischen Familien zu beobachten, die als „normale“ Deutsche anerkannt werden wollten. Der Sohn der Oettingers heiratete eine christliche Frau, mit der er nun in Berlin und faktisch ohne Religion lebte. Festzumachen ist der Übergang interessanterweise auch in dem von der jüdischen Schwiegermutter übernommenen Rezeptbuch, in das seine Frau nun zusätzlich nicht-koschere Rezepte eintrug. Zu erneuten Umbrüchen kam es in der Zwischenkriegszeit. Die Oettingers fühlten sich der Lebensreform nahe, sie waren gerne und viel zum Wandern in der Natur. Durch Abdullah, einem guten Freund der Familie, kamen sie mit einer muslimischen Reformbewegung in Kontakt. Die deutsch-muslimische Gesellschaft wurde zu einem wichtigen Lebensmittelpunkt von Emilia Oettinger und ihren Töchtern Susanna und Lisa. Sie konnten auf interessante Weise diese kosmopolitisch geprägte muslimische Kultur mit der Lebensreform in Einklang bringen. Damit stehen sie nicht allein, denn es kamen zu dieser Zeit einige muslimische und hinduistische Studenten nach Deutschland, die gerade auf solche eine große Anziehungskraft ausübten, die sich neu orientieren wollten. Während, beziehungsweise nach der Zeit des Nationalsozialismus traten die drei Oettinger-Frauen zum Islam über. Später konvertierte allerdings Susannas Tochter wieder zum Christentum.
Die Autorin erzählt nicht nur aus der Perspektive dieser Familie, sondern arbeitet auch heraus, inwiefern die Oettingers typisch für ihre jeweilige Zeit und Kultur waren. Ein Beispiel dafür ist der Versuch von Lisa, sich der muslimischen Kultur ihres Mannes anpassen, ohne ihre deutsche Identität aufzugeben. Oft werden Einzelheiten sehr detailliert beschrieben, was dem Leser einen guten Einblick in das Leben der Oettingers verschafft. Zudem gibt es einige Fotos, auf die im Text Bezug genommen wird. Sollte der Leser zwischenzeitlich mit der Generationenfolge der Oettingers durcheinander kommen, so hilft eine Genealogie am Ende dieses gut lesbaren Bandes weiter.
Rezension: Dorothea Gösele
Gerdien Jonker
» Etwas hoffen muss das Herz «
Eine Familiengeschichte von Juden, Christen und Muslimen
Wallstein Verlag, Göttingen 2018, 272 Seiten, € 24,–