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Eklige Zeugen

Allgemein

Eklige Zeugen
Erfolgreiche Verbrechersuche mit Insekten

Fliegenweibchen riechen Tote über Hunderte von Metern, selbst wenn die Menschen gerade erst gestorben sind. Kein Mord geschieht ohne Zeugen. Sie sind meist klein, messen selten mehr als einen Zentimeter, und sie sitzen auf Bücherregalen, Hecken und Waldböden. Diese Zeugen haben ein starkes Motiv für ihre Aufmerksamkeit: Sie suchen eine nahrhafte Wohnstätte für ihren Nachwuchs. Die Rede ist von Insekten. Sie besiedeln Mordopfer und hinterlassen dabei deutliche Spuren, die der Polizei verraten, wann und wo ein Mord geschehen ist. Noch vor wenigen Jahren war das in Deutschland völlig unbekannt. Inzwischen fragen Polizei und Gerichte immer häufiger Insektenkundler um Rat, um biologische Spuren am Tatort zu interpretieren. bild der wissenschaft hat mit dem Kölner Experten für forensische Entomologie, Dr. Mark Benecke, einen typischen Fall rekonstruiert.

1. Tag: 23. Mai 12.35 Uhr Den Angriff hatte Ilona K. nicht erwartet, obwohl ihre Ehe mit Bernd schon seit Jahren hauptsächlich aus Streit und Schlägereien bestand. Doch als er sie heute zu einem Waldspaziergang einlud, hatte sie sich gefreut. Dabei war die Freundlichkeit nur Tarnung: Auf einem einsamen Waldweg stößt Bernd K. seiner Frau ein Messer in Brust und Bauch. Er schleppt die Leiche zu einer alten Waldarbeiterhütte und lässt sie dort liegen.

1. Tag: 23. Mai 12.50 UhrBernd K. hat die Hütte noch nicht verlassen, als Goldfliegen bereits durch eines der eingeschlagenen Fenster kommen. Diese als „Schmeißfliegen” bekannten Insekten sind meist die Ersten an einer Leiche. Sie riechen mit ihren Antennen über Hunderte von Metern, dass dort ein Toter liegt, auch wenn der Mensch gerade erst gestorben ist. Die Weibchen legen ihre Eier in die Wunde des Toten. Dabei übt frisches Blut einen starken Reiz auf die Fliegen aus, die Pakete mit bis zu 300 Eiern ablegen. Andere Fliegen wie die Fleischfliegen legen einzelne Eier oder gebären sogar lebende Junge auf Leichen. Für die erwachsenen Tiere ist Fleisch nicht so wichtig, sie fressen auch Küchenabfälle. Aber für die Aufzucht ihrer Jungen brauchen sie einen toten Körper.

Für Kriminalisten ist dieser biologische Prozess von großer Bedeutung, denn aus dem Entwicklungsstand des Insektennachwuchses können sie erkennen, wann die ersten erwachsenen Tiere die Leiche erreichten – und damit, wann der Mord geschehen ist. Die Entwicklung der Fliegen hängt stark von ihrer Art und der Umgebungstemperatur ab: Je wärmer das Wetter, umso schneller ist das Wachstum der Tiere. Das Team der Wiener Gerichtsmedizin hat ein Computerprogramm entwickelt, das den wahrscheinlichen Todeszeitpunkt ermittelt, wenn man die Art der Fliegenmade, ihren Entwicklungsstand und die Wetter- und Temperaturverhältnisse eingibt. Für dieses Verfahren haben die Forscher um Christian Reiter viele Maden unter den verschiedensten Umweltbedingungen großgezogen.

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Eine wichtige Entdeckung: Die Entwicklungskurven sind nicht international übertragbar. Reiter: „In England und Italien lebende Fliegen einer Art sind zwar genetisch nicht zu unterscheiden, aber trotzdem entwickeln sie sich anders. Englische Fliegen wachsen auch noch bei feuchtem und kaltem Wetter, bei dem italienische schon längst in eine Art Kältestarre gefallen wären. Dagegen überleben die Fliegen aus dem Süden auch Temperaturen über 35 Grad, bei denen die Tiere aus dem Nordwesten sterben würden. Deshalb sind die Entwicklungszeiten unterschiedlich. Wer das nicht beachtet, kann bei der Todeszeitbestimmung einen halben Tag daneben liegen.”

Eine Fliegenart zu bestimmen ist eine Kunst. Wichtig sind zum Beispiel der Augenabstand, die Anordnung der Antennen und die Farbe der Bäckchen. „Falls kein Fliegenexperte da ist, kann man die Art auch mit einem DNA-Test ermitteln”, sagt der Wiener Gerichtsmediziner Prof. Christian Reiter. Sein Team und die Gruppe von Dr. Jens Amendt vom Frankfurter Senckenberg-Institut haben für viele Fliegenarten Standard-DNA-Tests entwickelt.

7. Tag: 29. Mai Blaue Calliphora-Schmeißfliegen haben die Leiche inzwischen besiedelt. Ihre Maden sind durch die Stichwunde ins Körperinnere vorgedrungen. Mit ihren Mundhaken reißen sie kleine Stücke aus dem Fleisch und speicheln das Gewebe mit Enzymen ein, um es vor dem Fressen anzudauen. Schließlich verschwinden sie mit ihrem Kopf völlig im Gewebe, nur ihr Hinterleib schaut noch heraus. Ein anatomischer Trick ermöglicht ihnen das Überleben im Nahrungsbrei: Ihre Atemöffnungen sitzen nicht vorne am Kopf oder an der Brust wie bei vielen anderen Insekten, sondern am Hinterende.

15. TAG: 6. Juni Die Schmeißfliegen-Maden haben genug gefressen, sie verpuppen sich nun. Dieser Zeitpunkt ist auch für Laien gut zu erkennen, da die fast durchsichtigen Tiere jetzt kürzer und dicker werden und ihren Darm vor diesem entscheidenden Entwicklungsschritt vollständig entleeren.

30. Tag: 21. Juni Der Nachwuchs der Calli- phora-Schmeißfliegen hat alle Entwicklungszyklen abgeschlossen: Die Puppenhülle reißt an speziellen Sollbruchstellen auf, und eine ausgewachsene Calliphora Schmeißfliege beginnt zu schlüpfen.

50. Tag: 11. Juli Es ist Sommer geworden. Die Fliegenmaden haben große Teile der Leiche gefressen. „Bei passender Witterung können Maden eine Leiche in zwei Wochen sauber skelettieren”, beschreibt Mark Benecke die erstaunliche Fähigkeit der Tiere. Ein neuer Bewohner stößt dazu: der Rotbeinige Schinkenkäfer Necrobia ruficollis. Er beginnt erst im Sommer mit dem Brutgeschäft, dabei interessiert er sich nur für alte Leichen. Seine Spezialität sind Haut und angetrocknetes Fleisch, aber ansonsten frisst er alles, was fett- und proteinreich ist, zum Beispiel die Larven von Fliegen.

80. Tag: 10. August Zwei Kinder entdecken die teilweise skelettierte Leiche beim Spielen und alarmieren die Polizei. Bei der kriminaltechnischen Untersuchung finden die Experten etliche wichtige Insektenspuren, wenn es auch keine Maden von Schmeißfliegen mehr auf der Leiche gibt, da kein frisches Gewebe mehr existiert. Stattdessen krabbeln auf dem toten Körper neben Larven von Schinkenkäfern auch Maden von Käsefliegen. Sie fallen den Ermittlern sofort durch ihre seltsamen Bewegungen auf: Sobald die Tiere sich verfolgt fühlen, haken sie ihren Vorderkörper an ihrem Schwanz fest, spannen sich und katapultieren sich dann weg. Ihre Lieblingsspeise ist faulendes, breiiges Fleisch. Im Haar der Toten stecken Hüllen von Speckkäfer-Larven der Gattung Dermestes. Diese Tiere leben von trockenem Gewebe: Haut und Haaren. Sie sind die letzten Insekten, die zum Tatort kommen. Der Befall mit Käfern lässt sich gut rekonstruieren, auch wenn keine Larven oder Käfer mehr da sind, denn die Larven hinterlassen bei ihren Häutungen eine stabile Chitinhülle. Die Häute von Fliegenmaden sind viel zarter und zerfallen leicht.

In einem alten Teppich, der etwa einen Meter von der Leiche entfernt liegt, entdecken die Spurensucher der Kripo Calliphora-Fliegen im frühen Verpuppungsstadium. Sie werden bei Ermittlungen leicht übersehen: Wenn die Insekten alle Maden-Stadien durchlaufen haben, kriechen sie von der Leiche weg und verbergen sich hinter Büchern, unter dem Sofa oder dem Teppich. Denn sie wollen sich verpuppen und in diesem völlig hilflosen Zustand sicher vor Vögeln sein, die in der Natur zu Leichen kommen, um Maden und Puppen zu fressen. In der Hütte gibt es zwar keine Vögel, aber die Schmeißfliegen-Maden spulen trotzdem instinktiv ihr angeborenes Verhaltensprogramm ab. Für die Ermittler sind die Insektenfunde von großer Bedeutung. Denn durch sie ist rasch klar: Der Mord hat sich vor über zweieinhalb Monaten ereignet – und zu dieser Zeit war der Ehemann ohne Alibi. Er hatte gehofft, dass man die Tatzeit nicht rekonstruieren könnte. Doch die tierischen Zeugen überführten ihn.

KOMPAKT

• Insekten benutzen Leichen als nährstoffreiche Kinderstube für ihren Nachwuchs.

• Aus den Entwicklungsstadien der Junginsekten können Experten schließen, wann sich ein Mord wahrscheinlich ereignet hat.

Thomas Willke

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Wissenschaftsjournalist Tim Schröder im Gespräch mit Forscherinnen und Forschern zu Fragen, die uns bewegen:

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